Frauen-Abfahrt in St. MoritzGoggia siegt, es fliesst Blut – die Konkurrenz ist fasziniert
Trotz gebrochener Hand gewinnt die Italienerin im Engadin. Die Geschichte passt zur Karriere der Draufgängerin, die nicht nur die Schweizerinnen zum Staunen bringt.
Sofia Goggia sagte einmal: «Angst darfst du nicht verdrängen, du musst sie in die Arme schliessen. Die beste Medizin gegen die Angst ist die Liebe – egal, um welche Angst es sich handelt.»
Goggia hätte gern Philosophie studiert, entsprechend äussert sie sich hin und wieder. Die Angst jedenfalls hat sie im Griff, sie, die so viel Grund dazu hätte, von ihr gebremst zu werden. Die Kreuzbänder waren schon gerissen, Knöchel, Wadenbein und Arm waren gebrochen, und am Freitag ging in St. Moritz auch noch die Hand kaputt, nachdem die Italienerin an einer Torstange angeschlagen hatte.
Operiert wurde sie in Mailand, zwei Platten und neun Schrauben setzten die Ärzte ein, erst um 22 Uhr kehrte sie ins Teamhotel zurück. Aber weder Schmerzen noch der Reisestress hindern sie daran, am Samstag ein Blitz-Comeback zu geben und allen um die Ohren zu fahren. Wieder einmal liefert Goggia eine Heldengeschichte, die genau zu Goggia passt. Dieser Draufgängerin, die so wild und mutig auch mal kopflos fährt. Aber meistens unheimlich schnell.
«Es ist nur eine Hand»
Für die 30-Jährige handelt es sich um den 15. Abfahrtssieg, sie gewinnt vor der Slowenin Ilka Stuhec und der Deutschen Kira Weidle. Obwohl aus der dick einbandagierten Hand Blut fliesst. Obwohl sie am Start nicht richtig abstossen und nur mit Schlittschuhschritten Tempo aufnehmen kann. Es hält sie nicht davon ab, im ersten Streckenabschnitt die fünftbeste Zeit zu realisieren. Auf die Frage, ob es nicht ein wenig verrückt gewesen sei, mit dieser Blessur zu starten, erwidert sie: «Meine linke Hand ist zwar dreimal so gross wie sonst. Aber hey, es ist nur eine Hand. Und ein bisschen Risiko gehört dazu.»
Mehrmals schon ist Goggia von gravierenden Verletzungen zurückgekehrt, meistens so schnell, dass sie die Prognosen der Mediziner ad absurdum führte. 2013, nach einem in Nordamerika erlittenen Kreuzbandriss, änderte sie ihren Umgang mit gesundheitlichen Rückschlägen. Am Flughafen wurde sie im Rollstuhl ans Gate gebracht, wo sie von Dominique Gisin deren Ticket für die Businessclass offeriert bekam. In Goggia, die den Bettel schon deprimiert hinschmeissen wollte, wurde die Kämpferin geboren, die sie heute ist. Sie hasse Mittelmässigkeit, sagte sie am Freitagmorgen im Engadin, «ich habe das Feuer in mir, um etwas ganz Grosses zu vollbringen».
Für die Art und Weise, wie sie fährt, hat die Abfahrtsdominatorin den Begriff «Goggia-Style» erfunden. Er liesse sich mit «Kamikazestil» umschreiben, ständig am oder gar über dem Limit, zumeist ohne jegliche Sicherheitsmarge. Vergleiche mit Bode Miller sind nicht selten, der Grat zwischen Genie und Wahnsinn ist bei der Frau aus Bergamo ziemlich schmal. An guten Tagen aber ist sie kaum zu bezwingen. Der Schweizer Speedtrainer Roland Platzer sagt: «Dann kannst du nur staunen, staunen und nochmals staunen.»
Schweizerinnen für einmal geschlagen
Im Engadin steht Goggia also mal wieder im Fokus. Sie hat nichts dagegen, im Gegenteil. Sie mag es, wenn sich alles um sie dreht, sie sei schon sehr egoistisch und nicht immer teamfähig, sagte sie einst – als Kind soll ihr erstes Wort denn auch nicht Mama oder Papa gewesen sein. Sondern «Ich».
Die Schweizerinnen hingegen bekleiden für einmal Nebenrollen, im Vergleich mit den letzten Rennen enttäuschen sie gar. Zwar klassieren sich deren fünf in den Top 15, als Beste muss sich die Bernerin Joana Hählen aber mit Rang 9 begnügen. Bezüglich der Siegerin schwankt sie wie ihre Teamkolleginnen zwischen Bewunderung und Verwunderung. «Ich weiss nicht, wie Sofia das gemacht hat», sagt Hählen. «Es ist unglaublich. Irgendwie kann sie sich in einen Zustand versetzen, in dem ihr alles egal zu sein scheint.» Jasmine Flury (10.) resümiert, so etwas sei nur bei Goggia möglich, «ich hätte nach solch einem Vorfall zwei, drei Rennen Pause gebraucht». Und Michelle Gisin (15.) sagt: «Das ist unglaublich, faszinierend, ja mirakulös. Wie viel sie heute riskiert hat – ich könnte das nicht mal im komplett gesunden Zustand.»
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.