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Verhandlungen mit der EU
Expertin rät der Schweiz, «absurdes EU-Gesetz» einfach zu ignorieren

Wocheninterview mit Christa Tobler.
26.04.2012
Bild: Urs Jaudas
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Nachdem der Bundesrat am Freitag den Entwurf für das EU-Mandat verabschiedet hat, erhält er Lob von Christa Tobler, Professorin für EU-Recht. Es sei erstaunlich, welche Ausnahmen die Schweiz der EU habe abringen können, sagt Tobler. Insbesondere bei der umstrittenen Unionsbürgerrichtlinie (UBRL), welche die Schweiz übernehmen soll, sei die «EU bereit, wichtige Zugeständnisse zu machen».

Die UBRL erweitert das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern in anderen EU-Ländern. Wenn die Schweiz diese Regeln übernimmt, hätten EU-Bürger auch hierzulande mehr Aufenthaltsrechte.

Kritiker, insbesondere die SVP, befürchten, dass bei der Übernahme der Richtlinie Menschen zum Beispiel aus Deutschland oder Polen die hiesigen Sozialwerke, insbesondere die Sozialhilfe, unterwandern würden. Zudem könnte die Schweiz kriminelle EU-Bürger nicht mehr ausschaffen, befürchten Gegner.

Kein Bleiberecht für Rentner: «Erstaunliche Ausnahme»

Nach der Einschätzung von Tobler kommt die EU der Schweiz nun aber genau in diesen Punkten entgegen. Erstaunlich sei dabei, dass die Schweiz gemäss dem als Verhandlungsbasis vereinbarten «Common Understanding» ihre bisherige Ausschaffungspraxis beibehalten könnte und kriminelle EU-Bürger grundsätzlich in gleichem Masse wie heute aus der Schweiz wegweisen dürfte.

Eine entscheidende Ausnahme gesteht die EU laut Tobler der Schweiz zudem bei nicht erwerbstätigen EU-Bürgern zu, die in die Schweiz wollen. Gemeint sind damit vor allem Rentnerinnen und Rentner. Sie dürfen auch künftig nur dann in der Schweiz leben, wenn sie nachweisen, dass sie selber für ihren Unterhalt aufkommen können.

Und vor allem: Nichterwerbstätige sollen auch nach einer Übernahme der UBRL in der Schweiz kein Anrecht auf Daueraufenthalt haben – auch nach fünf Jahren nicht. Dieses Zugeständnis sei erstaunlich, weil es «ausdrücklich von den EU-Regelungen in der UBRL zur Freizügigkeit abweicht», sagt Tobler.

Schweiz wird wohl trotzdem mehr EU-Bürger durchfüttern

Dank diesem Entgegenkommen der EU dürfte die Unterwanderung der Sozialwerke durch Menschen aus der EU zumindest gebremst werden.

Allerdings räumen sowohl die Bundesbeamten wie auch Tobler ein, dass unter Umständen trotzdem mehr eingewanderte EU-Bürger Sozialhilfe beziehen könnten. Denn Erwerbstätige, die fünf Jahre hier gelebt und gearbeitet haben, bekommen – anders als etwa die Rentner – künftig ein Daueraufenthaltsrecht und damit ein den Schweizern gleichgestelltes Recht auf Sozialhilfe.

Bundesrat Ignazio Cassis, zweite-rechts, spricht neben Bundesrat Guy Parmelin, Bundesraetin Elisabeth Baume-Schneider, und Andre Simonazzi, Bundesratssprecher, von links nach rechts, an einer Medienkonferenz ueber das Verhandlungsmandat mit der Europaeischen Union, am Freitag, 15. Dezember 2023, im Medienzentrum Bundeshaus in Bern.(KEYSTONE/Anthony Anex)

Zu wie vielen zusätzlichen Sozialfällen dies führt, ist umstritten. Weder die Bundesbehörden noch Tobler wollten eine Schätzung abgeben. Beim Bund glaubt man aber, dass die wirtschaftlichen Vorteile neuer Abkommen viel grösser seien als die durch Sozialhilfefälle von EU-Bürgern verursachten Kosten.

Schweiz soll Spesenregelung übernehmen

In einem zentralen und hoch umstrittenen Punkt blieb die EU hingegen stur: Sie verlangt von der Schweiz, dass sie die sogenannte Spesenregelung übernimmt. Sie ist ein Bestandteil des Entsenderechts der EU und damit Teil des EU-Binnenmarktrechts. 

Der Lohnschutz soll sicherstellen, dass wenn zum Beispiel ein Sanitärinstallateur aus Polen in Deutschland ein Badezimmer baut, er gleich viel Lohn bekommt wie deutsche Sanitärmonteure. Damit soll verhindert werden, dass polnische Firmen deutsche Unternehmen in Deutschland diskriminieren, sprich: Dumping betreiben.

Doch ausgerechnet bei den Spesen erhält die EU ihr Diskriminierungsverbot nicht aufrecht: Gemäss EU-Recht muss die polnische Firma ihrem Mitarbeiter in Deutschland zwar deutsche Löhne, aber bloss polnische, sprich tiefere Spesen zahlen. Genau das erlaubt Firmen in ärmeren EU-Ländern wie Polen, in reicheren Ländern günstigere Aufträge anzubieten respektive Dumping zu betreiben.

«Ein Systemfehler im Entsenderecht»

Dieses EU-Spesengesetz könnte zum Stolperstein werden bei den nun beginnenden Verhandlungen mit der EU. Denn die Schweizer Gewerkschaften wollen die Spesenregel um keinen Preis übernehmen.

Einen erstaunlichen Ansatz hat EU-Expertin Tobler. Sie sagt, die Spesenregelung der EU sei tatsächlich «absurd, ein Systemfehler im Entsenderecht». Die EU habe sie als politisches Zugeständnis an die ärmeren Oststaaten gemacht, um dafür neues EU-Recht mit einem sonst höheren Schutzniveau durchzubekommen.

Tobler gibt der Schweiz und den Gewerkschaften einen Rat: Der Bund solle zuerst versuchen, auch bei den Spesen eine Ausnahme auszuhandeln. «Gelingt das nicht, so könnte die Schweiz die Klausel übernehmen und dann einfach nicht anwenden, gleich wie das gewisse EU-Staaten auch machen», sagt EU-Expetin Tobler.

Komme es im schlimmsten Fall zu einer Klage, könnte man vor den Richtern argumentieren, dass die «Spesenklausel dem Rechtsgleichheitsgebot widerspricht und deshalb nicht gültig» sei. Das wäre laut Tobler «ein überzeugendes rechtliches Argument».

Macht der fremden Richter

In Bezug auf die ebenfalls umstrittene Gerichtsbarkeit hat die Schweiz laut Tobler gewisse Klärungen gegenüber den vor drei Jahren gescheiterten Verhandlungen zum Rahmenvertrag erreicht. Das Prinzip sei zwar dasselbe. Neu sei aber, dass «das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof für Erklärungen zu EU-rechtlichen Begriffen nur anrufen muss», wenn dies für den Streitfall «relevant und notwendig» sei.

Das Schiedsgericht entscheide selber darüber, ob der Europäische Gerichtshof überhaupt aufgerufen werden solle. Neu ist auch ausdrücklich festgehalten, dass der Europäische Gerichtshof keine Rolle spielt in der Frage, ob für die Schweiz Ausnahmen von der dynamischen Anpassung der bilateralen Abkommen an neues EU-Recht oder Sonderregelungen gelten.