Gespräch über die SchweizKönnen Expats und Schweizer Freunde werden? Ein Selbstversuch am Küchentisch
Wie Expats über uns denken: Wir haben Giovanna, Giulia und Joe zu uns nach Hause eingeladen – und über Recycling und Geld geredet.
- Unser Autor hat drei Expats zu sich nach Hause eingeladen.
- Er will von ihnen wissen, ob es tatsächlich so schwierig ist, in der Schweiz Freunde zu finden.
- Das fünfstündige Gespräch dreht sich um teure Wohnungen, den Schweizer «Doktortitel in Recycling» und die Hürde der Sprache.
Wie trifft man Leute, die gern unter sich bleiben? Man rennt mit ihnen mit.
Freitagabend in Zürich, ein Dutzend Joggerinnen und Jogger hat sich unter dem Engel im Hauptbahnhof versammelt. Sie haben sich über eine Freunde-finden-App zu einem «social run» verabredet. Alle sprechen Englisch, das Programm heisst «easy, flat, short run, no excuses!!!». HB–Chinagarten retour, lockere 9 Kilometer.
In der Runde bin ich der einzige Schweizer. Mein Ziel ist es, mit den Expats zu joggen und ein paar zu mir nach Hause einzuladen, um sie besser kennen zu lernen. Wie schwer kann das sein?
Die Gruppe rennt zum Glück nicht allzu schnell. Trotzdem gestaltet es sich kompliziert, verschiedenen Läuferinnen und Läufern meinen Plan zu präsentieren, während wir über den Limmatquai joggen und Passanten ausweichen, die ihren Adventseinkauf erledigen. Ich sehe mich für einen Moment aus deren Perspektive, bin für kurze Zeit auch ein Expat, der übers Trottoir prescht und etwas zu viel Platz einnimmt.
Die Expat-Runde schaut skeptisch
Einer der Jogger hat generell wenig Vertrauen in Medien und fordert mich zu einem Sprint auf. Zurück am Bahnhof klappts besser, ich stelle meine Idee den verschwitzten Runnern vor. Ein Abend mit Pizza und Tiramisù bei mir zu Hause, um darüber zu reden, wie Expats die Schweiz sehen und ob sie es wirklich praktisch unmöglich finden, hierzulande Freunde zu finden, die keine anderen Expats sind.
Ich vermeide das Wort «Expat» und sage «international community», das klingt irgendwie besser. Die Runde schaut skeptisch. Am Ende nehmen Giovanna und Giulia aus Italien das Angebot an. Sofort bereue ich die Idee, Pizza und Tiramisù zu servieren. Aber hey, no excuses!!!
Als der Abend näherrückt, lade ich Joe dazu ein, den englisch-holländischen Expat habe ich schon früher kennen gelernt. Meine Stichprobe sieht jetzt so aus: Giovanna, Giulia und Joe, alle gut ausgebildet, zwischen 31 und 35 Jahre alt, in Zürich lebend. Jogger.
Wein, Oregano und ein paar Finken
Zürich ist in den letzten Jahren immer mehr zur Expat-Stadt geworden, grosse Firmen ziehen internationale Fachkräfte an. Ein Drittel aller Personen zwischen 26 und 35 in der Stadt sind sogenannte Jahresaufenthalter. Englisch hört man an jeder Ecke; das Verhältnis ist zuweilen misstrauisch. Übernehmen die Expats die Wohnungen, die Restauranttische, die ganze Stadt?
Bei der Ankunft bringen meine Gäste Wein und Oregano mit – und Giulia ein Paar Finken. Sie hat irgendwo gelesen, dass man das in der Schweiz so macht. Aus dem Besuch wird am Ende ein fünfstündiges Gespräch über ein Land, das auf Neuankömmlinge manchmal seltsam wirkt.
Giulia arbeitet bei einem Pharmakonzern, spricht kein Deutsch, aber natürlich Englisch und sagt: «Die Arbeitskultur in Italien gefällt mir nicht, die Leute werden wie Sklaven behandelt.» In der Schweiz sei die Work-Life-Balance viel besser.
Giovanna ist Beraterin in den Bereichen Schmuck und Digitalmarketing und sagt: «In der Schweiz scheinen alle stolz auf ihr Land zu sein. Das war neu für mich.»
Joe kennt sich mit der EU-Gesetzgebung aus und berät Firmen in dieser Sache. Er ist mit seiner Freundin in die Schweiz gekommen, sucht hier einen Job und sagt: «Dass ich meiner Freundin in die Schweiz gefolgt bin, weil sie hier eine Stelle bekommen hat, wird oft thematisiert.» Was die Beziehungen zwischen den Geschlechtern angeht, sei die Schweiz ein recht konservatives Land geblieben, insbesondere gelte das für die ältere Generation.
Ein paar Klischees über Expats können wir schon am Anfang aus dem Weg räumen. Ihre eigene Wohnung haben Joe, Giulia und Giovanna selber gesucht und ohne grobe Probleme gefunden. Aber niemand von ihnen wohnt in einem teuren Apartment in Bahnhofsnähe oder wurde in einer Business-Wohnung untergebracht.
Das verwirrende Schweizer Recyclingsystem
Die drei können trotzdem nachvollziehen, dass es eine Frustration gibt. «Der Eindruck ist, dass Expats nicht versuchen, sich zu integrieren, dass es zwei parallele Welten gibt», sagt Joe. Er kennt die Situation aus Amsterdam, wo er aufgewachsen ist und wo gut ausgebildete Ausländer mit Steuererleichterungen angelockt wurden – bis die Immobilienpreise gestiegen und viele weggezogen sind. Joe sieht sich aber auch in der Verantwortung, mehr von der Schweizer Kultur zu verstehen und sein Verhalten anzupassen.
Einfach ist das nicht immer. Das Recyclingsystem zum Beispiel scheint ausserordentlich verwirrend zu sein. Wieso wird nicht alles abgeholt, und weshalb muss Papier und Karton so hübsch gebündelt werden? «In der Schweiz braucht man einen Doktortitel in Recycling», sagt Joe. Er werde das Gefühl nicht los, dass er böse Blicke bekomme, wenn er etwa Altpapier vor die Tür stelle.
Über Recycling reden alle gern und lang. Genauso wie über die Ruhe in Zürich, vor allem an Sonntagen. Joe glaubt, dass Schweizer eine Lärmallergie hätten. Gibt es hier keine Auseinandersetzungen auf der Strasse?
Den typischen Expat gibt es nicht
Eine ernsthaftere Hürde stellt die Sprache dar. Giovanna hat es schon erlebt, dass eine Dame ihr den Hörer aufgehängt hat, weil sie zwar Hochdeutsch, aber kein Schweizerdeutsch spricht. Giulia braucht für ihren Pharmajob kein Deutsch, während Joe gerade Deutschstunden nimmt.
Obwohl, wie er sagt, die Schweizerinnen und Schweizer die Sprache zu Hause gar nicht sprechen und sich auch nicht wohlfühlen würden damit. Wenn Deutschkenntnisse erwartet würden, erschwere das die Jobsuche in der Schweiz erheblich.
Am Pizzaabend wird schnell klar, dass es den typischen Expat nicht gibt. Meine Auswahl krankt aber ein wenig am Problem der Selbstselektion. Es sind ja eher die aufgeschlosseneren Leute, die auf eine solche Einladung eingehen. Weniger jene, die sich aus allem raushalten wollen.
Wieso geht man überhaupt zu einem Unbekannten nach Hause, der potenziell ein Massenmörder sein könnte? Der Grund scheint im generalisierten Vertrauen zu liegen. In der Schweiz habe sie den Eindruck, dass sie den Leuten vertrauen könne, sagt Giulia.
Joe ist noch nicht lange in der Schweiz, hat aber schon einiges vom Schweizer Antietatismus mitbekommen, auf den er in diesem Zusammenhang verweist. Die historische Tradition, sich in der Gemeinschaft selbst zu organisieren, sei verbunden mit einem «fast amerikanischen Misstrauen» in staatliche Einmischung, die schnell als übertrieben wahrgenommen werde.
Für die Gäste hat die demokratische Mitbestimmung einiges mit dem öffentlichen Raum und der Natur rund um Zürich zu tun, die sie dank des Joggings gar nicht so schlecht kennen. Der Respekt gegenüber dem öffentlichen Raum sei offenbar Teil der Schweizer Kultur, meint Joe. «Alle haben das Gefühl, dass sie am öffentlichen Raum teilnehmen und dazu beitragen.» Und beitragen würden sie, weil sie wüssten, dass sie dank der direkten Demokratie auch bei Kleinigkeiten in ihrer Umgebung ein Mitspracherecht hätten, so Joe.
Mieten ist in anderen Ländern Geldverschwendung
Freunde aus Italien hätten ihr beim Besuch versichert, dass die Plätze, die in Zürich saubergewischt seien, in Italien längst zugemüllt wären, erzählt Giovanna. Und vor dem Coop würden über Nacht sogar die Pflanzen draussen stehen gelassen.
Die Natur sei auf eine Art in die Stadt integriert, wie er es noch nie gesehen habe, sagt Joe. Aber er habe ja auch in Brüssel gearbeitet, und Brüssel sei «objektiv hässlich».
Natürlich ist auch Geld ein Gesprächsthema. Ein Haus in der Stadt könne sich ja gar niemand kaufen, finden alle, dabei gelte in Italien als Geldverschwender, wer eine Wohnung miete. Giulia fragt sich, ob sie sich einmal leisten könnte, in der Schweiz Kinder zu bekommen angesichts der Betreuungskosten.
Giovanna wundert sich über die Selbstverständlichkeit, mit der schon 9-Jährige über Armbanduhren als Geldanlagen sprechen würden. Eine 7000-Franken-Uhr als Investment, für ein Kind! Was der Italienerin auch auffällt: Wie oft hierzulande Kunden für Reparaturen zahlen würden von Sachen, die eigentlich nicht so schnell kaputtgehen sollten. Giulia beobachtet, dass das Wissen über Finanzfragen in der Schweiz höher sei als etwa in Italien.
Von den Expats lernen
Die Schweiz lockt internationale Fachkräfte an und profitiert davon, dennoch scheint es ein Misstrauen zu geben gegenüber den Menschen, die tatsächlich kommen. Hauptsache, sie arbeiten: In ihrer Heimat gebe es leider eine Unterscheidung zwischen denen, die wegen eines Jobs gekommen seien, und denen, die ohne Job ankämen, weil sie vor etwas geflohen seien, sagt Giulia.
Vielleicht ist es die Arbeitserfahrung in verschiedenen Ländern, die die Expats mitbringen, ihre selbstverständliche Kommunikation auf Englisch, die in der Schweiz noch immer Eindruck macht.
Der Wohlstand im Land fördere nicht gerade die Selbstreflexion, sagt Joe. «Die Schweizer nehmen an, dass hier alles besser ist als anderswo.» Die Älteren entwickelten daraus möglicherweise ihre konservative Haltung, aber die Jüngeren sähen die Welt deutlich anders. Sie seien offener gegenüber kulturellen Unterschieden, viele von ihnen hätten tatsächlich im Ausland gelebt und gearbeitet.
Auch wenn das eine privilegierte Situation ist, die sich längst nicht alle einrichten können: Vielleicht müssen weniger die Expats sich anpassen, sondern wir ein bisschen mehr werden wie sie. Freunde werden kann man in der Zwischenzeit sowieso.
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