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Ex-Schiedsrichterin Anna Wiegand
«Es gab immer wieder sexistische Sprüche»

Pionierin: Anna Wiegand dient Schweizer Schiedsrichterinnen als Vorbild – und ist nun deren Fördererin.
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Anna Wiegand, Ihr erstes Spiel als Schiedsrichterin soll im Desaster geendet haben …

Es war eine 4.-Liga-Partie in Oerlikon – und sie verlief nicht ganz nach Plan (lacht). Ich war Spielerin bei GC und hatte erst einen Ausbildungskurs absolviert. Aber naiv wie ich war, dachte ich: Ich gehe mal pfeifen, das kriege ich hin. Und so bin ich brutal auf die Welt gekommen. Bei Icings hob ich die Hand nicht hoch, hatte die Wechsel nicht im Griff und vergass viele Regeln. Die zweite Schiedsrichterin hat quasi mein Händchen gehalten und sich bei den Spielern für mich entschuldigt.

Dachten Sie danach: Das ist nichts für mich?

Im Gegenteil. Ich war genervt, dass mein Debüt in die Hose gegangen war, und so wollte ich alles korrigieren und war erst recht motiviert. Als Spielerin war ich mit dem Puck zwar meistens überfordert, aber eine gute Läuferin. Und so dachte ich, dass es als Schiedsrichterin funktionieren könnte. Meine Sichtweise hat sich sehr schnell geändert.

Inwiefern?

Als Spielerin glaubte ich: Der Schiedsrichter fährt ans Spiel, wirft den Puck ein und pfeift die Strafen. Dabei ist alles ganz anders. Es steckt viel Leidenschaft und Training dahinter – Training unter schwierigen Bedingungen.

Das heisst?

Ich hatte keine Teamkollegen zum Trainieren. Und freies Eis gibt es kaum. So blieb mir nur der öffentliche Eislauf – neben schreienden Kindern und ihren Müttern (lacht). Sich da wie im Spiel zu bewegen und Matchsituationen zu visualisieren, war alles andere als einfach.

Wie entscheidend ist die Physis?

Ich vergleiche es mit dem Biathlon-Sport. Natürlich ist es weniger intensiv, aber auch Schiedsrichter sind ständig in Bewegung und müssen bei hohem Puls möglichst ruhig bleiben und Entscheidungen treffen, wie der Biathlet am Schiessstand. Man muss unter Stress funktionieren, es gibt schliesslich Hunderte Regeln.

Sie pfiffen als erste Frau ein Spiel in der National League. Wie beschwerlich war der Weg dahin?

Er war vor allem ziemlich lang. Ich pfiff mehrere Saisons in der 3. Liga, und als ich in der 2. Liga war, dachte ich: Weiter hoch geht es wohl nicht mehr. Es dauerte elf Jahre, bis ich in der Swiss League ankam. Lange hatte ich starke Selbstzweifel. Es half nicht, dass es hiess, ich sei die Quotenfrau und würde nur aus politischen Gründen gefördert.

Anna Wiegand, Schiedsrichterin, gewinnt den Special Award, anlaesslich der Swiss Ice Hockey Awards, am Freitag, 29. Juli 2022 in Bern. (KEYSTONE/Marcel Bieri)

Wären Sie als Mann schneller vorwärtsgekommen?

Das kann ich nicht beurteilen. Für mich war es ein Vorteil, dass alles länger gedauert hat. So war ich immer bereit für den nächsten Schritt. Wäre ich schneller aufgestiegen und hätte Fehler gemacht, wären die Reaktionen vielleicht so heftig gewesen, dass ich mich davon nicht erholt hätte.

Sie sind zierlich gebaut und halb so schwer wie einige Spieler. Haben Sie je gefährliche Situationen erlebt?

Bei einer Kollision erlitt ich einen Rippenbruch, weil ich das Spiel schlecht gelesen hatte und an der falschen Position stand. Musste ich bei einer Prügelei dazwischengehen, gab es auch mal blaue Flecken. Doch wenn eine Schiedsrichterin fit ist und das Schlittschuhlaufen beherrscht, braucht sie sich nicht zu fürchten.

Waren die Spieler mit Ihnen kritischer als mit männlichen Unparteiischen?

Schwierig zu sagen. Je besser das Niveau, desto weniger spielte das Geschlecht eine Rolle. In den unteren Ligen war das viel mehr ein Thema. Einige hatten da Mühe, mich zu akzeptieren.

Das heisst?

Ich hörte immer wieder sexistische Sprüche, aber die kamen meistens von der Tribüne. Auch einige männliche Schiedsrichterkollegen waren zunächst skeptisch und dachten, sie müssten mit mir an ihrer Seite wohl 120 Prozent geben. Diese Zweifel konnte ich in der Regel ausräumen – das ging nur über die Leistung.

«Einmal kam ein betrunkener Fan auf mich zu, meine Schiedsrichterkollegen stoppten ihn aber ziemlich resolut.»

Hört man, was die Fans rufen?

Ja, wenn es wenige Zuschauer hat. Aber das muss beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus. Doch es kam auch vor, dass ich stehen blieb und der Person, die mir etwas Primitives zugerufen hatte, tief in die Augen blickte. Oft waren jene Leute dann peinlich berührt.

Benötigten Sie Schutz?

Einmal kam ein betrunkener Fan auf mich zu, meine Schiedsrichterkollegen stoppten ihn aber ziemlich resolut. Für die nächsten Spiele in jenem Stadion wurde das Sicherheitskonzept überarbeitet.

Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie sich das alles antun?

Doch, zu Beginn vor allem. Aber eben, es wurde viel besser. Aufhören wollte ich 2015 aus einem anderen Grund: Die Frauen-WM in Schweden ging total in die Hose, ich stand nach privaten Turbulenzen neben den Schuhen. Mein heutiger Mann, der damals nur mein Schiedsrichter-Götti war und mich coachte, überredete mich, den Bettel nicht hinzuschmeissen.

Ihr Mann Marc Wiegand ist Profi-Schiedsrichter. Wie musste man sich während Ihrer Aktivzeit die gemeinsamen Nachtessen vorstellen?

(Lacht) Wir diskutierten intensiv, waren sehr kritisch und nicht immer lieb zueinander. Ich habe enorm von ihm profitiert. Mein erstes Swiss-League-Spiel pfiff ich an seiner Seite, da galt es, Privates und Berufliches zu trennen.

Les arbitres Anna Maria Wiegand et Marc Wiegand, lors de la rencontre du championnat suisse de hockey sur glace de National League, entre HC Ajoie et SCL Tigers, ce vendredi, 11 mars 2022, a la patinoire de la Raiffeisen Arena a Porrentruy. (KEYSTONE/Bist/Guillaume Hentzi)

Sie sagten einst, Sie hätten sich auf dem Eis grösser machen müssen, als Sie sind. Wie ist das zu verstehen?

Ich bin 163 cm gross, etwa 30 cm kleiner als viele Spieler. Und ich bin eher schmal gebaut, schminke mich gern – das passt auf Anhieb nicht zu diesem Sport. Wenn die Schiedsrichterin pfeift, muss sie sichtbar sein und Autorität ausstrahlen. Ich eignete mir gewisse Techniken an: Einem besonders grossen Spieler erklärte ich eine Szene beispielsweise immer mit räumlicher Distanz, damit ich nicht so extrem zu ihm hochschauen musste.

Sie waren die einzige Frau, die auf Profi-Ebene arbitrierte. Hatten Sie Mühe, ausgestellt zu sein?

Ich wuchs mit drei Brüdern auf, spielte bis 17 ausschliesslich Hockey in Männermannschaften. Ich habe Erfahrung damit, die einzige Frau unter vielen Männern zu sein. (Überlegt) Ich erinnere mich an einen Lehrgang für Schiedsrichter auf Juniorenstufe, da waren etwa 60 Männer und ich. Am Schluss sagte der Kursleiter: «Gut, warst du dabei, die Jungs haben sich anders verhalten als sonst.»

Neben Ihrer Tätigkeit als Schiedsrichterin haben Sie stets gearbeitet, meistens im 100-Prozent-Pensum. Wie war es, nach achteinhalb Stunden im Büro am Abend auf dem Eis zu stehen?

Sehr intensiv. Ich erinnere mich an ein Playoff-Spiel in Visp, das erst in der zweiten Verlängerung entschieden wurde. Ich kam kurz vor 4 Uhr nach Hause, unterwegs hatte ich meiner Chefin geschrieben, dass ich es zum 8-Uhr-Meeting nicht schaffen würde (lacht).

«Auf den Heimreisen war ich froh, wenn ich irgendwo überhaupt noch etwas Essbares fand.»

Noch in der 1. Liga erhalten Unparteiische keine 100 Franken Entschädigung pro Spiel. Da geht die Rechnung niemals auf.

Es braucht schon sehr viel Leidenschaft und Idealismus. Man muss früh genug an die Spiele fahren und sich vorbereiten, danach geht es spät wieder heim, und eine Spielanalyse ist an und für sich zwingend. Da kommen einige Stunden zusammen. In den unteren Ligen wird überdies keine Verpflegung angeboten. Ich kann keine Tankstellen-Sandwiches mehr sehen, ich habe unzählige davon gegessen, weil es in der Eile keine Alternativen gab. Und auf den Heimreisen war ich froh, wenn ich irgendwo überhaupt noch etwas Essbares fand.

Letztes Jahr hörten Sie als Schiedsrichterin auf, mit erst 37 Jahren. Weshalb?

Ich realisierte, dass ich nochmals viel mehr hätte machen müssen für den nächsten Schritt. Und im Fraueneishockey hatte ich auf internationaler Ebene alles erreicht. Der Hauptgrund aber waren meine beiden Töchter. In der Olympiasaison 2021/2022 verpasste ich drei Monate in ihrem Leben, weil ich so oft unterwegs war. Darunter habe ich gelitten.

Nun sind Sie im Verband für die Schiedsrichterinnen zuständig. Kommen einige Talente nach?

In der MyHockey League und in der 1. Liga pfeifen einige Frauen, auch bei den Elite-Junioren sind einige engagiert. Frauen kommen im Eishockey generell auf, es gibt bei den Männern auf unteren Stufen auch Trainerinnen. Es tut sich etwas – als ich 2007 anfing, war das noch ganz anders.