Nepalesische Rekord-BergsteigerinIn der Stunde des Triumphs denkt sie an das Drama ihrer Freunde
Dawa Yangzum Sherpa hat als erste Nepalesin alle 14 Achttausender bestiegen – fast genau ein Jahr nachdem zwei Amerikanerinnen in einem Wettlauf gegeneinander zu viel wollten.
- Dawa Yangzum Sherpa bestieg als erste Nepalesin alle 14 Achttausender.
- Anna Gutu und Gina Rzucidlo starben ein Jahr zuvor bei einem Lawinenunglück am Shishapangma.
- Kurz nach Dawa Yangzum Sherpa stellt auch ein 18-Jähriger einen Rekord auf.
Am 9. Oktober, um 5.30 Uhr in der Früh, erreicht Dawa Yangzum Sherpa den Gipfel des Shishapangma auf 8028 Metern über Meer. Es ist der letzte Achttausender, der in ihrem Gipfelportfolio gefehlt hat.
Weniger als hundert Menschen haben alle 14 Achttausender bestiegen. Gut zehn Prozent von ihnen sind Nepalesen, und Dawa Yangzum Sherpa ist die erste nepalesische Frau in dieser Liste.
Die 34-Jährige hat schon mehrere Marken im Alpinismus gesetzt: Sie hat etwa als erster Mensch den Langdung (6357 m) im Winter bestiegen oder stand als erste Frau ihres Volkes auf dem Broad Peak (8051 m). Zudem ist sie die erste Sherpani, die von der Internationalen Vereinigung der Bergführerverbände als Bergführerin zertifiziert worden ist.
Drei Tage nach ihrer Rückkehr vom Shishapangma schreibt Dawa Yangzum Sherpa auf Instagram: «Dieser Berg hat eine spezielle und emotionale Bedeutung für mich. Letztes Jahr haben wir hier tragischerweise vier liebe Freunde verloren: Gina, Tenjen, Mingma und Anna.»
In zwei Jahren auf 13 Achttausendern – auch wegen Netflix
Am 7. Oktober 2023, ein Jahr und zwei Tage vor Dawa Yangzums Gipfelerlebnis, ereignet sich am selben Berg ein Drama.
Ein paar Stunden zuvor hat Anna Gutu in ihrem Zelt gesessen, eine 32 Jahre alte Ukrainerin mit US-amerikanischem Pass. Zum Alpinismus war sie rund zwei Jahre zuvor gekommen, unter anderem inspiriert durch die Netflix-Serie «14 Peaks: Nothing Is Impossible».
Gutu hat bis zu diesem Tag 13 Achttausender bestiegen. Und mit dieser Zahl sitzt sie im Zelt am Shishapangma, dem niedrigsten aller Achttausender und dem einzigen, der vollständig in China steht. Ein paar Stunden Schlaf bleiben noch, dann will sie zum letzten Aufstieg aufbrechen. Auf einem Instagram-Video hat sie diesen Moment festgehalten. An ihren Augen ist das Lachen zu erkennen. Den Rest des Gesichts bedeckt die Maske, die Gutu wenige Meter unterhalb der Todeszone mit Sauerstoff versorgt. Sie murmelt ein paar Worte und legt die Bewegungen ihres Oberkörpers in den Rhythmus des Songs «Lose Yourself». «This opportunity comes once in a lifetime», singt Eminem aus dem Lautsprecher. Diese Chance kommt einmal im Leben.
Wenige Stunden später wird Gutu versuchen, diese Chance zu nutzen. Rund 200 Meter unter dem Gipfel endet ihr Versuch. Eine Lawine erfasst sie und ihren Begleiter Mingmar Sherpa. Die beiden kommen darin um.
Am selben Tag am selben Berg der gleiche Tod
Zu diesem Zeitpunkt ist über ihnen eine weitere Seilschaft unterwegs, mit Gina Marie Rzucidlo und Tenjen Lama. Wie Gutu hat auch Rzucidlo alle anderen 13 Achttausender bestiegen, nur der Shishapangma fehlt ihr noch.
Das Magazin «Outside» hat den Tag in einem Text so lange wie zehn Zeitungsseiten rekonstruiert. Demnach wird Rzucidlo nach der ersten Lawine per Funk geraten, ihren Gipfelversuch abzubrechen. Doch sie steigt weiter hoch. Rund 80 Meter unter dem Gipfel werden auch sie und Tenjen Lama von einer Lawine verschluckt. Auch sie kommen um.
Dawa Yangzum Sherpa, die erste Nepalesin, die alle Achttausender bestiegen hat und sowohl mit Gutu als auch Rzucidlo befreundet war, steht an jenem Tag ebenfalls am Shishapangma. Wie andere Expeditionen verzichtet auch sie auf den Aufstieg, weil sich das Wetter verschlechtert hat und die Lawinengefahr gestiegen ist. Doch Gutu und Rzucidlo wollen unbedingt auf den Gipfel, auf diesen einen noch. Wer zuerst oben ist, trägt den Titel «Erste Amerikanerin, die alle 14 Achttausender bestiegen hat».
Wegen dieses Rennens sterben sie am selben Tag am selben Berg den gleichen Tod.
Die Mutter bittet, am Berg den Namen der Tochter zu rufen
Nach den Lawinenunfällen sperrt China den Berg. Die Leichen können monatelang nicht geborgen werden. Damit kämpfen die Angehörigen – mit dem Abschied ohne Bestattung und ohne die endgültige Bestätigung, dass die Bergsteigerinnen und Bergsteiger tot sind. «Outside» erzählt, wie ein Freund von Rzucidlo nach China gereist ist, so nahe wie möglich zum Shishapangma, um dort eine Gedenkstätte zu errichten. Das war drei Monate nach dem Unfall. Rzucidlos Mutter bat diesen Freund, Ginas Namen zu rufen, wenn er dort sei.
Das Lawinenunglück am Shishapangma hat einmal mehr die westlichen Bergsteiger ins Zentrum gerückt. Ein Jahr danach drehen sich die Schlagzeilen dank Dawa Yangzum Sherpa wieder um die Nepalesen. Doch auch in dieser Welt geht es nicht ohne Rekorde. 35 Minuten nachdem sie als erste Nepalesin ihren letzten Achttausender bestiegen hat, steht auch Nima Rinji Sherpa auf dem Shishapangma. Er ist 18 Jahre alt und hat den Rekord des jüngsten Menschen, der auf allen Achttausendern war, um 12 Jahre gesenkt.
Im Nachgang verbreitete Nima Rinji Sherpa eine Nachricht: «Dieser Gipfel ist nicht nur der Höhepunkt meines eigenen Weges, sondern eine Hommage an jeden Sherpa, der es je gewagt hat, über die Grenzen zu denken, die uns traditionell gesetzt werden.» In anderen Worten: Die Menschen des Volkes der Sherpas sind nicht nur Helfer am Berg, sondern selbst Eliteathleten.
Selbstverständlich standen am 9. Oktober 2024 auch Westler auf dem Shishapangma. Die US-Amerikanerin Anna Pfaff zum Beispiel, die mit Dawa Yangzum Sherpa unterwegs war und zum ersten Mal einen Achttausender bestieg. Oder die Britin Adriana Brownlee, die mit 23 Jahren zur jüngsten Frau wurde, die auf allen Achttausendern stand.
Inzwischen ist auch das Rennen vorbei, bei dem Anna Gutu und Gina Marie Rzucidlo ihr Leben verloren haben: Tracee Metcalfe hat am 4. Oktober den Gipfel des Shishapangma erreicht. Sie ist die erste Amerikanerin, die alle Achttausender bestiegen hat.
In einer ersten Version dieses Artikels war ein Bild fälschlicherweise mit Gina Marie Rzucidlo beschriftet, es zeigte aber Anna Gutu.
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