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Europa wählt ein neues Parlament
«Alleine ist man klein und verwundbar»

Lausanne, le 26 avril 2024. Portrait de Agata Miszczyk, auteure de podcast franco-suisse.     Photo Yvain Genevay / Le Matin Dimanche
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Agata Miszczyk, 40, lebt in Lausanne, Podcasterin, Französin und Schweizerin

«Ich schätze es extrem, wählen zu können. Meine Eltern kamen als Geflüchtete nach Frankreich – aus Polen, das damals noch unter kommunistischer Besatzung war. Ich habe deshalb früh gelernt: Man muss seine politischen Rechte ausüben und ernst nehmen. Wählen ist ein Privileg. Und ich habe bisher keine Gelegenheit dafür verpasst. Auch an den Europawahlen werde ich natürlich teilnehmen.

Seit vierzehn Jahren lebe ich nun in Lausanne, meine beiden Kinder sind hier geboren. Letzten Juni wurde ich eingebürgert. Das war ein extrem emotionaler Moment für mich, weil ich jetzt auch hier mitbestimmen kann. Ich fühle mich gleichermassen als Europäerin, als Französin und als Schweizerin – und ein bisschen als Polin, wegen meiner Wurzeln.

Mir passt vieles an der aktuellen EU-Politik nicht. Die meisten EU-Politiker sind Dinosaurier, die nur an ihrem eigenen Machterhalt interessiert sind. Ich finde aber: Nur wer wählen geht, kann sich glaubwürdig darüber beklagen. Also habe ich die Kandidatin ausgesucht, die meine Interessen am ehesten vertritt, sie gehört zu France Insoumise, einer linken Partei.

Wenn es geht, wähle ich immer Frauen. Beruflich mache ich derzeit einen feministischen Podcast, und politisch sind für mich der Kampf gegen die Ungleichheiten und Nachhaltigkeit die wichtigsten Themen.

Ich möchte gegen das weitverbreitete Bild ankämpfen, dass man als nachhaltig denkender Mensch nur im Wald Körner isst. Ein starkes Europa ist für mich auch ein zentrales Gegenprojekt zu anderen Ländern auf anderen Kontinenten, die grosse CO₂-Schleudern sind und nichts daran ändern wollen. Frankreich alleine kann das nicht. Nur gemeinsam können die europäischen Länder auch anderen Weltmächten etwas entgegensetzen.

Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten machen mir Angst. Die EU sollte mehr tun, um eine Ausdehnung des Konflikts auf andere Länder zu verhindern – und gleichzeitig die Menschen vor Ort zu schützen.»

João Cunha, 29, lebt in Zürich, Bauleiter, Portugiese

Portrait von Joao Cunha.
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(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)

«Ich bin politisch nicht wirklich interessiert. Im Job bin ich als Bauleiter stark eingespannt, daneben habe ich meine Hobbys. Ich weiss, ich sollte mich mehr informieren, aber momentan gibt es für mich Wichtigeres. Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr, Zeitung lese ich höchstens, nachdem wir mal mit Kollegen über ein Thema diskutiert haben. An den Europawahlen werde ich nicht teilnehmen.

Vieles an der EU-Politik stört mich. Etwa die Position zum Ukraine-Krieg. Dass immer nur Russland verantwortlich gemacht wird für alles. Wenn sich zwei streiten, tragen immer beide einen Teil der Verantwortung.

Die letzte portugiesische Wahl habe ich auch verpasst, das hat mich geärgert. Zum Glück gab es dann auch ohne meine Stimme endlich einen politischen Wandel. Die Unternehmen werden wieder gestärkt. Zuvor hatte sich Portugal jahrelang immer nur in eine Richtung bewegt: nach links.

Und was haben wir davon? Die Jungen haben grosse Probleme, Jobs zu finden. Egal welche Ausbildung du hast, du bist arbeitslos. Die Privatwirtschaft wird ausgetrocknet. Nur der Staat bekommt immer mehr Angestellte. Und die Korruption ist ein riesiges Problem. Wenn du immer verlierst, solltest du mal den Trainer wechseln. Ich hoffe, jetzt wird es besser.

Für Portugal war damals auch der EU-Beitritt nicht gut. Mit dem Euro ging die Kaufkraft verloren – das haben meine Eltern selbst miterlebt. Deshalb sind wir in die Schweiz gekommen, als ich 11 Jahre alt war. Bisher bin ich hier nicht eingebürgert, trotzdem würde ich nicht sagen, dass ich mich nur als Portugiese fühle.

Wenn du auswanderst, nimmst du von jeder Kultur das, was am besten zu dir passt. Meine strukturierte Arbeitsweise ist typisch schweizerisch, meine Lebensweise würde ich als Portugiesisch bezeichnen. Die Work-Life-Balance ist mir wichtig, ich gehe nach der Arbeit auch mal mit Freunden ein Bier trinken. Ich finde, das kommt in der Schweiz oft zu kurz.»

Meribel Hagen, 37, lebt in Amriswil, Accountant, Estin und Schweizerin

Meribel Hagen aus Estland, zu Besuch in Meilen. Story zur Europaratswahlen. Foto: André Springer

«Wählen ist für mich Ehrensache. Für uns Estinnen und Esten im Ausland ist es zudem sehr einfach. Erst erhalten wir eine E-Mail von der Botschaft mit allen Infos. Dann braucht man die estnische Identitätskarte (ID), einen ID-Leser und Internet. Einmal eingeloggt, ist die Sache in fünf Minuten erledigt.

Zur EU habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Ich finde die Grundidee super. Das Miteinander ist in unserer Welt sehr wichtig. Estland wird von der EU finanziell unterstützt. Ich glaube, dass mein Land vorbildlich mit dem Geld umgeht und kaum Schulden ansammelt. Ich frage mich aber, ob alle Mitgliedsstaaten so seriös wirtschaften.

Ich bin zudem etwas skeptisch, was die EU-Regulationen angeht. Ich bin dafür, dass man möglichst wenig vorschreibt. Nur schon deshalb, weil man das Leben in Portugal kaum mit jenem in Estland vergleichen kann. Als schweizerisch-estnische Doppelbürgerin ist mir zudem wichtig, dass die EU mit der Schweiz eine gute Beziehung hat und sie nicht dominiert oder gar schluckt. 

Ich war Anfang April in Estland, ich würde die Stimmung mit dem Begriff «schweigende Angst» beschreiben. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine spürt man in Estland eine grosse Unsicherheit. Es ist nicht schön, einen solchen Nachbarn zu haben. Man hofft, dass nichts passiert. Man ist aber bereit für den Ernstfall. Auch darum will ich, dass Estland in der EU und der Nato bleibt. Alleine ist man klein und verwundbar. Durch das Miteinander fühlt man sich stark.

Darum weiss ich auch ganz genau, wen ich nicht wähle: prorussische Parteien. Ministerpräsidentin Kaja Kallas ist mir sehr sympathisch: Sie ist eine starke Person, sie macht klare Aussagen, man versteht sie. Darum wähle ich ihre liberale Partei, die Reformierakond. Ob Frau oder Mann ist mir egal, einfach gut müssen die Personen sein.»

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«Um wählen zu können, müsste ich rund 12 Stunden Auto fahren und Ferien nehmen. Mein Wahlbüro ist in meinem Heimatdorf Montedorisio in Süditalien, das 2400 Einwohner hat und in der Region Abruzzo liegt. Deshalb wähle ich nicht. Die Regeln in Italien sind extrem kompliziert, nicht nur bei den Europawahlen. Per Brief zu wählen, geht nicht. In anderen EU-Ländern gibt es Wahlbüros – in der Schweiz nicht. Andere EU-Länder haben da viel bessere Regeln. Ich glaube auch, dass die hohen Hürden dazu führen, dass sich junge Menschen seltener beteiligen. Ältere haben mehr Zeit und können zu Fuss in ihrem Dorf ins Wahlbüro gehen. Das hat auch politische Auswirkungen: Ältere Leute sind ja tendenziell häufiger konservativ eingestellt. 

Ich glaube, der Trend zum Rechtspopulismus wird in Italien weitergehen. Auch wenn ein Teil der Leute unzufrieden ist mit Giorgia Meloni. Aber auf der linken Seite gibt es so viele Parteien, die sich gegenseitig bekämpfen. Das bedaure ich, auch weil ich niemanden finde, der alle meine Positionen vertritt.

Das Thema Gleichstellung ist mir besonders wichtig. Rechtsorientierte sagen in Italien ständig: Wir wollen raus aus der EU. Ich persönlich finde es zentral, dass es die EU gibt. Italien konnte davon profitieren, einiges hat sich verbessert. Die Schweiz ist aber in einer ganz anderen Situation. Mir gefällt es, dass wir hier neutral sind, und ich finde, die Schweiz sollte der EU nicht beitreten.

Als Europäerin fühle ich mich nicht wirklich. Das ist schade, es wäre schön, wenn eine gemeinsame europäische Identität verbreiteter wäre. Ich selbst definiere mich aber als Schweizerin und Italienerin. In Bassersdorf habe ich gelebt, bis ich acht war. Dann ging ich mit meinen Eltern nach Italien, wo ich auch studiert habe. Seit einem Jahr bin ich nun wieder zurück und arbeite in Zürich als Architektin.»