Sanija Ameti im Interview «Die Unabhängigkeit ist ein Mythos. Das ist die Lebenslüge der Schweiz»
Wie verhalten wir uns zur EU? Die Co-Präsidentin der Operation Libero will mit der Europa-Initiative eine Grundsatzdebatte erzwingen – und sucht den Streit mit der SVP.
Frau Ameti, die Schweiz hat über Jahre hinweg mit der EU Vorgespräche geführt. Nun laufen intensive Verhandlungen. Am Schluss wird ein Vertragspaket vorliegen, welches das Verhältnis Schweiz - EU klären soll. Dieses Paket geht ans Parlament und am Ende vors Volk. Warum braucht es da noch eine Europa-Initiative?
Aus zwei Gründen: Es ist nicht garantiert, dass am Ende tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vors Volk kommt. Beim letzten Mal brach der Bundesrat die Verhandlungen ab. Auch das Parlament könnte diese stoppen. Unsere Initiative ist eine Rückversicherung: Man kann einer Abstimmung nicht mehr ausweichen. Zweitens wollen wir endlich die Grundsatzfrage klären, wie die Schweiz zu Europa stehen soll. Diese Frage der Schweizer Identität wird seit 30 Jahren vermieden. Stattdessen unterwerfen wir uns dem Abwehrdiskurs der SVP, die zweimal pro Jahr eine Volksinitiative lanciert und damit die Debatte dominiert. Das wollen wir durchbrechen. Und das geht nur mit einer Initiative.
Verstehe ich Sie richtig – Sie wollen den Streit auf das Spielfeld der SVP bringen?
Genau. Dieses Schweiz-Bild, Ballenberg und Bauern, das ist ja sehr romantisch. Aber das hat nichts mit der Zukunft dieses Landes zu tun, das so vernetzt und international aufgestellt ist. Deshalb wollen wir eine Diskussion über die Grundsatzfrage. So, wie die Europa-Debatte zurzeit läuft, redet man über Spesenregelungen. Ich sage nicht, dass dies nicht wichtig ist. Aber die Gefahr ist, dass wir uns in Details verlieren.
Was fordern Sie denn konkret mit der Initiative?
Wir wollen die Schweiz als aktiven Teil Europas positionieren. Als Land, das eng mit Europa zusammenarbeitet. Und mitredet. Das ist eine Identitätsfrage, und die gehört in die Verfassung.
Zentrales Argument der Gegner ist, dass die Schweiz durch die zunehmende Integration in die EU an Unabhängigkeit und Souveränität verliert.
Das Narrativ der Unabhängigkeit ist ein Mythos. Das ist die Lebenslüge der Schweiz. Seit den 60er-Jahren sind wir nicht mehr unabhängig. Wir übernehmen um die 50 Prozent an europäischem Recht, ohne mitbestimmen zu können. Den Mythos bewirtschaftet nur die SVP – und jetzt ist Schluss damit.
Sie haben die Europa-Initiative bereits 2022 einmal vorgestellt – und mussten sie nun umformulieren und neu lancieren. Das zeigt doch, dass sich die Welt zu schnell verändert, als dass man darauf mit einer Initiative reagieren könnte.
Moment – 2022 haben wir einfach einen ersten Text vorgestellt. In der Zwischenzeit haben wir uns mit der europäischen Bewegung Schweiz zusammengetan, und der Bundesrat hat neue Verhandlungen mit der EU aufgenommen. Wir haben deshalb entschieden, den Text nochmals zu vereinfachen. Mit Fokus auf die Identitätsfrage, die ich vorhin angesprochen habe.
Sehen Sie die Initiative als Druckmittel gegenüber Bundesrat und Parlament?
Ich rede lieber von «Rückenwind». Unsere Initiative und das Verhandlungsziel des Bundesrats stimmen überein. Unsere Idee ist, dass Europa durch die Unterschriftensammlung für die Initiative in der Schweiz ganz grundsätzlich ein Thema wird. Und dass wir ein positives Zukunftsnarrativ haben, wenn das erwähnte Vertragspaket vors Volk kommt.
Die Europa-Initiative wird wohl aber erst nach einer Abstimmung über das Vertragspaket vors Volk kommen.
Das ist genau der richtige Zeitpunkt. Sollte das Paket abgelehnt werden, haben wir die Initiative als Rückversicherung. Und sollte es angenommen werden, können wir immer noch den Rückzug der Initiative prüfen. Unsere Initiative ist aber ein langfristiges Projekt, es soll auch in 30 Jahren noch die Grundlagen für enge Beziehungen zur EU sein.
Sie wollen das proeuropäische Lager mobilisieren. Bei der Vorstellung der Initiative fehlen zum Beispiel die GLP, die SP, die Wirtschaftsverbände. Warum haben Sie diese nicht an Bord holen können?
Fragen Sie am besten bei diesen Organisationen nach. Wir haben sie eingeladen – zurück kamen vage und ausweichende Antworten. Ich glaube, man will sich alle Optionen offenhalten. Aber das ist für uns gar nicht entscheidend. Wir starten eine Initiative aus der Zivilbevölkerung. Eine Initiative aus dem Volk fürs Volk.
Und welche Signale erhalten Sie aus dem Bundesrat für Ihr Anliegen?
Vom Bundesrat hören wir nichts – das ist wohl auch gut so, er muss sich nun auf die Verhandlungen konzentrieren.
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