Island: Jetzt gehts in den NordenWie ich es endlich ins Land von Björk schaffte
Die meisten kommen nach Island, um im Süden den legendären «Golden Circle» abzufahren. Dabei kann der Norden locker mithalten – oder ist er gar noch schöner? Eine neue Rundtour erschliesst die landschaftlichen Highlights. Und originellen Zvieri gibt es auch.
Der Mann kniet sich auf den Boden, schiebt eine Steinplatte zur Seite und greift mit beiden Händen in das Loch. Kurz darauf befördert er einen runden Behälter ans Tageslicht, löst den Deckel ab, lässt uns hineinsehen und ruft triumphierend: «Tadaaa!» Ein frisches Brot! Nicht im Ofen gebacken, sondern 24 Stunden im natürlich warmen Vulkanboden. Eben noch ist Anton auf unserer Offroadbuggy-Tour im vordersten Vehikel vorausgefahren, nun kramt er aus seinem Rucksack ein Mödeli Butter hervor, dazu ein kariertes kleines Tischtuch und ein Messer. Das Ganze drapiert er liebevoll auf dem Heck seines Gefährts, und dann darf sich jeder unserer kleinen Reisegruppe ein Stück Brot abbrechen, Butter draufschmieren («nehmt ordentlich!», befiehlt Anton lachend) und – hmmmm!
Das ist das Schönste an Island: Immer, wenn man am wenigsten damit rechnet, wartet es mit kleinen Überraschungen auf. Nachdem man beim Wandern mal wieder derart heftig durchgepustet wurde, dass man am liebsten gleich in den nächsten Flieger heimwärts steigen will, huscht plötzlich ein Polarfuchs über die Strasse – und das Herz macht einen Freudenhupfer. Oder eben: Da kommt Brot aus dem Boden!
Dabei waren die Feedbacks von denen, die vor mir schon dort waren, eher durchzogen. «Island? Total überschätzt», meinte der Kollege, «ich fands enorm trostlos.» – «Landschaftlich ein Traum», fand eine Freundin. «Aber nimm Salz und Pfeffer mit. Die können echt nicht kochen dort oben.»
Trotzdem, ich war enorm aufgeregt, nach «dort oben» aufzubrechen. Endlich! Seit meiner Teenagerzeit war Island ein Sehnsuchtsort: In den 90ern fanden wir Björk wahnsinnig cool, hatten Trolle mit buntem Kunsthaar an den Rucksäcken baumeln und wollten hippe Orte sehen. Island stellten wir uns vor wie einen einzigen grossen Club (sprich: Reykjavík), eingebettet in eine mystische Landschaft, deren Bewohner tatsächlich an Trolle glaubten.
Ich schaffte es nie dorthin.
Neu entbrannte Nord-Süd-Rivalität
Dann kamen die 2010er, und Island kam wieder aufs Tapet, mit Pauken und Trompeten – respektive mit dem Eyjafjallajökull-Vulkan, der mal eben den europäischen Flugverkehr lahmlegte, einerseits, andererseits als eisblaue Kulisse in «Game of Thrones». Inzwischen hatte sich die Zahl der Touristen auf der Insel auf 1’250’000 verfünffacht (gerade auch wegen GoT: Allein aus den USA kommt jährlich eine Viertelmillion!), die Plastiktrolle waren als Retrokitsch auf Ricardo angekommen und Björk mit einer Retrospektive im Moma. Und ich dachte, während ich so auf dem Sofa hockte und Daenerys und John Snow beim Flirten zusah: Gopf, da musst du jetzt echt mal hin.
Natürlich wurde wieder nichts draus.
Mein grosser Moment sollte erst diesen Frühling kommen, in Form eines Aufgebots für eine Island-Pressereise – die, notabene, in den Norden führen sollte, wo sich die ausländischen Gäste bisher eher rar machten. Die meisten kommen für eine Woche; das reicht gerade, um den legendären «Golden Circle» im Süden abzufahren. Logisch, dass man im Norden auch etwas von Zeit und Budget der Gäste abhaben will – und neuerdings mit einer eigenen Rundtour lockt, die (fast ein wenig schnippisch) «Diamond Circle» getauft wurde.
Diese neu entbrannte Nord-Süd-Rivalität bekommt unser Reisegrüppchen schon sehr bald nach der Landung in Reykjavík zu spüren. Wir sollen uns im Süden warm laufen (wobei «warm» selten so weit von der thermischen Realität entfernt war); Nejra von Visit South Iceland holt uns am Flughafen ab, sagt: «Der Süden ist der schönste Landesteil, ihr werdet sehen!» – und zündet in den folgenden 48 Stunden ein regelrechtes Feuerwerk – Gletscherwanderung! Vulkanbesteigung! Lava-Show! –, bevor sie uns in den Norden entlässt.
Im Zentrum der Insel schneestürmt es so leidenschaftlich, dass wir fürchten, von der Strasse gefegt zu werden. Danach: ein fetter, leuchtender Regenbogen.
Um Zeit zu sparen, will man uns hochfliegen, aber kurz vor Take-off heisst es: zu windig, sorry, Guys. Also schnell einen Bus organisiert und einmal den Mittelatlantischen Rücken hochgefahren, also mehr oder weniger genau entlang jener Linie, wo die nordamerikanische und die eurasische Kontinentalplatte pro Jahr gut zwei Zentimeter auseinanderrücken.
«Ich hasste jede Minute!»
Von dem hochbrisanten geologischen Tun unter unseren Rädern merken wir nichts, gottlob, aber wenn es je einen 6-Stunden-Trip gab, der von einer meteorologischen Universalität war, dann diese Fahrt: Als wir vor der Abfahrt noch rasch ein paar Säcke Lakritz im Schoggimantel als Proviant besorgen – wie schnell man doch lokale Gepflogenheiten adaptiert! –, scheint erstmals seit unserer Ankunft die Sonne; kaum sind wir losgefahren, setzt aber schon der Regen ein; nach rund zwei Stunden, im Zentrum der Insel, schneestürmt es so leidenschaftlich, dass wir fürchten, von der Strasse gefegt zu werden. Doch bevor uns richtig mulmig werden kann, ist auch schon wieder die Sonne zurück und mit ihr, als Tüpfelchen auf dem i: ein fetter, leuchtender Regenbogen. Und dann: das Ganze noch einmal von vorn.
Als wir Akureyri – mit 20’000 Seelen so was wie die Hauptstadt des Nordens – erreichen, müsste es schon Nacht sein. Aber hier oben, so nah am Polarkreis, gelten andere Regeln, und in den Sommermonaten wird es nur mitten in der Nacht kurz dunkel. Hjalti von Visit North Island empfängt uns jedenfalls purlimunter – mit selbst frittierten Kleinur (dem isländischen Pendant zu unseren «Schenkeli») und den Worten: «Willkommen im Norden, dem besten Teil Islands!» Er stamme von hier oben, habe aber eine Zeit lang in Reykjavík studiert, erzählt er. «Ich hasste jede Minute.»
Ausserirdisch anmutende Landstriche, in denen man zwischen schwefelstinkenden Dampflöchern lustwandelt – und sich nicht wundern würde, böge plötzlich ein Marsmobil ums Eck.
Damit es der jungfräulichen Schönheit des Nordens in ihrer ganzen Bandbreite verfalle, wird unser Grüppchen in den Folgetagen nicht geschont; was wir aufgrund unserer verzögerten Anreise verpasst haben, wird knallhart nach den Abendessen nachgeholt. Wir protestieren nicht, denn was die Natur hier zu bieten hat, ist ebenso grotesk wie grotesk schön: Wasserfälle, die vor lauter Wind auch mal von unten nach oben «fliessen». Ausserirdisch anmutende Landstriche, in denen man zwischen schwefelstinkenden Dampflöchern und bläulich-orangenen Rinnsalen lustwandelt – und sich nicht wundern würde, böge plötzlich ein Marsmobil ums Eck. Quellenbäder, wo man mit einem kühlen Bier in der Hand in natürlich warmem Wasser lümmelt und einen Sonnenuntergang betrachtet, der einfach nicht zu Ende gehen will.
Und immer und überall: dieser surreal schwarze Boden, der an den Stränden zu feinkörnigem Sand wird und auf den Vulkanen zu Kieseln, die unter den Wanderschuhen knirschen, als würde man über Blähton laufen. Darf man ein paar der schwarzen Bröckchen als Souvenir mitnehmen, Hjalti? «Verboten ist es nicht. Ihr müsst einfach damit rechnen, dass ihr von Elfen heimgesucht werdet.» Ähm, wie bitte? «Es gab mal eine Frau», fährt unser Guide ungerührt fort, «die, wieder zurück in der Heimat, so geplagt wurde, dass sie ‹ihren› Stein schliesslich mit der Post zurückschickte. Samt einer genauen Ortsangabe, wo sie ihn eingesteckt hatte, und der flehenden Bitte, das Ding genau dorthin zurückzulegen.»
Nichts für Weicheier
Wir gehen auf Nummer sicher, sprich: lassen das Zeug liegen. Und begnügen uns damit, immer wieder von neuem zu staunen, wie es sich die Vegetation nicht nehmen lässt, selbst die scharfkantigsten Brocken zu überwuchern, und wie dazwischen zartgrüne Pflänzchen tapfer Wind und Wetter trotzen. «Viel Moos, aber nix los», kalauert die Kollegin hinter mir im Bus, als wir mal wieder durch die endlos scheinende Landschaft tuckern.
Auf einen Quadratkilometer kommen nicht mal vier Menschen. Wenn doch mal zwei aufeinandertreffen, die sich mögen, wird flugs das Handy gezückt und per App abgecheckt, wie viele Generationen zurück man miteinander verwandt ist.
Je länger man sich das ansieht, desto deutlicher erkennt man, dass auch den Leuten, die hier leben, nichts anderes übrig bleibt, als sich den widrigen Umständen anzupassen. Zäh sind sie, praktisch veranlagt und scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Muss wohl so sein. Allzu empfindsamen Gemütern würden der beissende Wind, die Nässe, die irgendwann in jede Ritze dringt, die Kargheit schnell den Garaus machen. «So weit man sehen kann, nur die Ruhe des Todes und die Düsternis des Grabes», hat der Schriftsteller Thórbergur Thórdarson den Charme seiner Heimat mal beschrieben. Zugespitzt, klar, aber nicht völlig an den Haaren herbeigezogen.
Dazu die Einsamkeit: Auf einen Quadratkilometer kommen nicht mal vier Menschen. Wenn doch mal zwei aufeinandertreffen, die sich mögen, wird flugs das Handy gezückt und per App abgecheckt, wie viele Generationen zurück man miteinander verwandt ist. Man kann nie wissen; die Durchmischung mit fremdem Erbgut kam hier oben immer etwas zu kurz. Ein Paradies für Ahnen- und Genforscher.
Wir sagen nur: Gesäuerte Widderhoden!
Und nicht nur für die. Island, das haben wir am Ende unseres Trips gelernt, hat gewissermassen multiples Paradiespotenzial. Ruhesuchende werden hier ebenso happy wie Partypeople (ja, Reykjavík hats noch immer drauf). Pferdenarren, Ornithologen und Whale-Watcher sowieso. Ausserdem Hobbygeologen, Outdoorfreaks und sogar Nachhaltigkeits-Afficionados: Manches Torfhaus, vor Jahrhunderten gebaut, steht bis heute. Und ist noch immer wasserdicht!
Aber wer gewinnt denn nun, der Norden oder der Süden? Wir mögen uns nicht entscheiden, verteilen aber Sonderpreise in zwei Kategorien. Der erste geht an den Norden: für die Architektur. Gepflegt und lustvoll bunt gestrichen kommt sie daher, während der Süden oft lieblos zusammengezimmert wirkt, fast so, als hätte man sich nicht zu viel Mühe geben wollen, weil früher oder später ja doch ein Vulkan alles wegradiert (man hat da leidvolle Erfahrung). Da hatte der Kollege bezüglich Trostlosigkeit schon recht, zumal wenn das Wetter nicht mitmacht, was häufig der Fall ist.
Dafür – ich reibe es der Freundin mit zig Whatsapp-Fotos unter die Nase – kann man im Süden fantastisch essen. Das zur Sicherheit aus dem Flieger mitgenommene Salzpäckli kommt jedenfalls nie zum Einsatz. Eine junge Generation von Köchen hat merklich Spass daran, das doch etwas eigensinnige kulinarische Erbe (wir sagen nur: gesäuerte Widderhoden!) nach dem Vorbild der New Nordic Cuisine in eine neue Ära zu führen.
Unentschieden also.
Bezeichnenderweise ist es vielleicht gerade auf halbem Weg zwischen Norden und Süden, zwischen Schneesturm und Regenbogen, wo man diese aus Lava und Eis zusammengepappte Insel in ihrer ganzen Eigenart, ihrer üppigen Kargheit und kargen Üppigkeit, zu begreifen beginnt. Und sich bei dem Gedanken ertappt: Ich werde wiederkommen.
Wie gesagt: Die schönsten Überraschungen warten sowieso immer dort, wo man sie nicht erwartet. In einer nicht erwähnenswerten Bar in einem Dörfchen im Niemandsland erzählt uns ein alter Mann lächelnd, er habe Björk auch schon getroffen, natürlich. Und, wie ist sie so? – «Lovely!»
Die Reise wurde unterstützt von Visit South Iceland, Visit North Iceland und Edelweiss.
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