«Sofagate» in AnkaraEU-Ratspräsident muss sich erklären
Wegen seines Verhaltens beim Treffen mit dem türkischen Staatschef Erdogan steht Charles Michel in der Kritik. Auch das EU-Parlament hat sich in die Kontroverse eingeschaltet – und verlangt Aufklärung.
Der Versuch, mit einem Beitrag auf Facebook die Wellen der Empörung und den Vorwurf des Sexismus zu stoppen, ist gescheitert. Obwohl EU-Ratspräsident Charles Michel den Besuch beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aus seiner Sicht kommentierte, bleibt «Sofagate» das bestimmende Thema in Brüssel.
Zu eindeutig zeigt ein Video, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara auf einer Couch Platz nehmen muss, während sich Michel sofort auf den Sessel vor der EU-Fahne setzt. Zudem symbolisiert die Szene für viele Beobachter nicht nur, wie schwer sich Erdogan tut, Frauen als gleichwertig anzusehen, sondern auch die Konkurrenz zwischen von der Leyen und Michel. Der hat in dieser Situation falsch reagiert.
Alle Hinweise, dass in Artikel 13 des EU-Vertrags der Europäische Rat, also das Gremium der Staats- und Regierungschefs, vor der EU-Kommission genannt wird und daher protokollarisch höher steht, können nicht entkräften, worauf der Belgier hätte bestehen sollen: Von der Leyen und er müssen gleich behandelt werden. Denn die EU-Appelle für Gleichstellung und mehr Diversität werden nur glaubwürdig, wenn ihnen Taten folgen.
Auf Facebook beteuert der 45-jährige EU-Ratspräsident, dass ihm die «bedauerliche» Behandlung von der Leyens nicht gleichgültig gewesen sei. Allerdings hätten beide das Treffen nutzen wollen, die Bedeutung von Grundrechten zu betonen und den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu kritisieren.
Dass Michel stolz sei, dass mit von der Leyen und Christine Lagarde bei der Europäischen Zentralbank zwei der vier EU-Institutionen von Frauen geleitet werden, wird kaum jemand anzweifeln, aber seine Kommunikation ist nicht zum ersten Mal unglücklich. Weil er erst 24 Stunden schwieg und dann zu keinem «Sorry» bereit war, will das Europaparlament eine Debatte ansetzen und Michel und von der Leyen einladen.
Dass deren Verhältnis auch ansonsten oft als «wie zwischen Hund und Katze» beschrieben wird, liegt auch an ihren Jobs: Seit 2009 gilt der Lissaboner Vertrag, wonach ein Ratspräsident die Staats- und Regierungschefs vertreten und deren Gipfel vorbereiten soll. Wer aber an der Spitze der EU-Kommission steht, verfügt über ein Milliardenbudget und 30’000 Beamte – auch deshalb gilt diese Position als die mächtigere.
Wie gern Michel Ratspräsident werden wollte, war kein Geheimnis: Er hatte als belgischer Premier seit 2014 an EU-Gipfeln teilgenommen und in seiner Heimat bewiesen, dass er Kompromisse zwischen verschiedenen Partnern finden kann. Politik war immer präsent in seinem Leben.
Michels Vater war Aussenminister und EU-Kommissar. Er selbst wurde mit 18 Provinzabgeordneter, zog mit 23 als jüngster Abgeordneter ins belgische Parlament ein und wurde mit 24 Innenminister in Wallonien. Von 2011 bis 2014 war er Chef der französischsprachigen Liberalen.
«Aus protokollarischer Sicht kommt der Ratspräsident an erster Stelle und der Chef der Kommission an zweiter Stelle.»
Dass er derselben Parteifamilie angehört wie der Franzose Emmanuel Macron, hat ihm ebenso geholfen wie seine Offenheit und die Bereitschaft zum Dialog. Manche EU-Diplomaten lästern, dass Michel für Entscheidungen lange brauche und zu wenig Führungsstärke zeige. Aber bisher ist es ihm immer wieder gelungen, Kompromisse herzustellen. Unzählige Telefonate hat er geführt, um die Spannungen zwischen der Türkei und der EU zu entschärfen und jene zweigleisige Strategie mitzuentwickeln, die von der Leyen und er nun Erdogan von unterschiedlichen Sitzmöbeln aus präsentiert haben.
Unterstützung erhält Michel von Jean-Claude Juncker. Von der Leyens Vorgänger sagte «Politico», bei allen Reisen sei klar gewesen, dass «aus protokollarischer Sicht der Ratspräsident an erster Stelle kommt und der Chef der Kommission an zweiter Stelle». Mitunter habe auch er auf dem Sofa gesessen. Und: «Es gibt wichtigere Kontroversen als diese.»
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