EU-Gipfel in BrüsselOrban versucht, die Ungarn in der Ukraine gegen Kiew aufzuhetzen
Premier Viktor Orban will den EU-Beitritt der Ukraine verhindern und beruft sich dabei auch auf die Interessen der ungarischen Minderheit dort. Die aber fühlt sich vereinnahmt – und fordert das Gegenteil.
Viktor Orban hatte sein Nein zu EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zuletzt vor allem mit Korruption und Krieg im Nachbarland begründet. In Brüssel wird es als Ironie der Geschichte empfunden, dass der Regierungschef, dem wegen massiven Korruptionsvorwürfen Milliarden Euro Fördergelder vorenthalten werden, der Ukraine diesbezüglich Untätigkeit vorwirft. Just das Verhalten Ungarns sei ja einer der Gründe, stellte Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission, unlängst auf dem «15. Mediengipfel» im österreichischen Lech fest, warum die Staats- und Regierungschefs der EU einer Erweiterung so skeptisch gegenüberstünden. (Lesen Sie hier unsere Analyse zum EU-Gipfel zur Ukraine.)
Aber die Liste von Orbans Argumenten ist ohnehin länger, wenngleich nicht unbedingt überzeugender. Der ungarische Regierungschef wirft Kiew auch eine «Diskriminierung» der ungarischen Minderheit in der Ukraine vor. Vor allem in Transkarpatien, im Westen des Landes, leben etwa 100’000 ungarischstämmige Ukrainer.
Ungarn in der Ukraine wollen in die EU
Das 2017 verabschiedete – und bereits zweimal überarbeitete – Gesetz zur Stärkung der ukrainischen Sprache, das Ukrainisch als Behörden- und Unterrichtssprache von der fünften Schulklasse an festlegt, benachteilige ethnische Ungarn, findet man in Budapest. Ebenso das 2022 beschlossene Minderheitengesetz, das der ungarischen Minderheit keinen ausreichenden Autonomiestatus gewähre. Man werde, so Orban noch im September, dem Beitritt nicht zustimmen, solange dieses nicht gekippt werde.
Vorsitzende der wichtigsten ungarischen Organisationen haben jetzt aber sehr deutlich gemacht, dass sie sich von Orban eine Unterstützung der Ukraine wünschen. In einem auf Ungarisch und Ukrainisch veröffentlichten offenen Brief an Orban und EU-Ratspräsident Charles Michel heisst es, man setze «grosse Hoffnung» auf die Beitrittsverhandlungen. «Wir, die Vertreter der ungarischen Minderheit in Transkarpatien», heisst es, «fordern alle Staatenlenker auf, fortzufahren mit der Integration der Ukraine in die EU.» Zudem spiegelten die jüngsten Änderungen am Minderheitengesetz, die das Kiewer Parlament in der vergangenen Woche beschlossen hat, «die Interessen von nationalen Minderheiten wider und haben unsere volle Unterstützung».
Viktor Orban reagierte auf den Brief seinerseits mit einem Schreiben an die Landsleute in der Ukraine. Die ungarische Zeitschrift «HVG» berichtet, der Regierungschef habe etwas zugesichert, was allerdings gar nicht infrage stand: Seine Regierung werde «alles tun, um die Rechte der ungarischen Gemeinschaft zu schützen». Ein Beitritt der Ukraine zur EU sei aber nicht «zeitgemäss», er werde sich daher für eine strategische Partnerschaft mit Kiew einsetzen. In einem Interview mit der Website Mandiner.hu fügte er hinzu, die aktuellen Änderungen am Minderheitengesetz seien «nicht gut genug. Ihr habt uns Rechte weggenommen. Gebt sie uns zurück.»
Neue Gesetze zum Schutz der Minderheiten
Tatsächlich aber hat Kiew mit einer Reform des Minderheitengesetzes eine wesentliche Forderung der Kommission erfüllt, die den Beitragsgesprächen noch im Wege stand. Die Venedig-Kommission hatte die ursprüngliche Fassung des Gesetzes begrüsst, das Rechte und Pflichten von Minderheiten definierte, aber weitere Änderungen verlangt. Die wurden nun nachgeliefert; so sollen Minderheiten ihre «sprachliche, kulturelle und religiöse Identität bewahren» und, ganz konkret, Versammlungen in ihrer Sprache ohne Übersetzung abhalten dürfen.
Eine Gruppe europäischer Diplomaten, die sich vor dem EU-Gipfel in Brüssel in Transkarpatien mit Vertretern der ungarischen Minderheit traf, bestätigte, dass die Reform des «Gesetzespakets zu nationalen Minderheiten» sehr positiv aufgenommen worden sei. So zitiert das ukrainische Aussenministerium die EU-Botschafterin in Kiew, Katarína Mathernová.
«Wir sind alle Bürger der Ukraine»
In internationalen Medienberichten aus der Region wird zudem deutlich, dass sich die ethnischen Ungarn dort vor allem als Ukrainer fühlen. László Zubánics, Chef der Demokratischen Union der Ungarn in der Ukraine (UMDSZ), sagte Radio Free Europe, «wir leben in der Ukraine und sollten uns hier engagieren». Der Bürgermeister der Stadt Berehowe (Beregszász), Zoltán Babják, betonte, Russland sei der Feind; viele Interviewte gaben an, für ihr Vaterland, die Ukraine, in den Krieg ziehen zu wollen.
Orban beklagt auch regelmässig, dass Ungarn in der ukrainischen Armee kämpfen müsse und sein Land auf diese Weise «in den Krieg hineingezogen» werde. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski war deshalb im August 2023 demonstrativ nach Transkarpatien gereist und hatte Soldaten ausgezeichnet. «Wir sind alle Bürger der Ukraine», hatte er gesagt, «egal, ob ethnische Ungarn, ethnische Ukrainer oder alle anderen Mitglieder unserer Gemeinschaft. Wir verteidigen unser Land, wir unterstützen unsere Helden.»
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