Politik am Eurovision«Alle müssen einen Verhaltenskodex unterschreiben»
Martin Green hat in England schon olympische Spiele geleitet. Nun ist er EBU-Boss und für den Eurovision in Basel zuständig. Hier spricht er über das Schweizer Anti-ESC-Referendum und die Frage, wie politisch und queer der ESC ist.
Martin Green ist Direktor der European Broadcasting Union, die den Eurovision Song Contest veranstaltet. Als solcher ist er auch der oberste Chef des Eurovision Song Contest (ESC) in Basel 2025.
Der Engländer leitete zuvor die Olympischen Spiele in London 2012 sowie den ESC in Liverpool 2023. Für seine Verdienste erhielt er den Rang eines Commander of the Order of British Empire. Wir haben am Dienstag in Basel mit ihm gesprochen, wo die Halbfinalgruppen des Eurovision Song Contest 2025 ausgelost wurden.
Herr Green, welche besonderen Herausforderungen bringt es mit sich, den Eurovision Song Contest in der Schweiz auszutragen?
Ich denke, die einzigartigen Herausforderungen liegen nicht unbedingt im Land oder in der Stadt selbst. Der ESC ist die grösste Musikshow der Welt. Im Gegensatz zu vielen anderen globalen Grossereignissen hat man nur 364 Tage Vorlauf, um den ESC auszurichten. Es ist nicht wie bei den «Softies» der Olympischen Spiele, die vier Jahre Zeit haben.
Es gab in der Schweiz allerdings politische Referenden gegen die Austragung des ESC.
Demokratie ist immer gut. Das Referendum hat mit überwältigender Mehrheit ergeben, dass der ESC hier stattfinden soll. Die Menschen haben entschieden.
Gab es dennoch einen Plan B? Hätten Sie den ESC an den Zweitplatzierten vom letzten Jahr vergeben, also Kroatien?
Nein, es gab keinen Back-up-Plan. Obwohl wir in der Planung immer solche haben, war das Vertrauen, dass die Menschen in dieser Stadt den ESC wollten, sehr stark. Nicht zuletzt, weil man in Basel früh neben Stolz und Freude über die Austragung auch die wirtschaftlichen Vorteile gesehen hat.
«Wenn Menschen zusammenkommen, kann es zu verschiedenen Meinungen kommen.»
Der ESC wurde einst als Friedensprojekt gegründet. Ist er das immer noch?
Definitiv. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen 37 oder 38 Länder durch Musik zusammenkommen – und nicht durch Sport. Natürlich gibt es unter den teilnehmenden Ländern unterschiedliche Meinungen, wir sind schliesslich Menschen. Aber der ESC zeigt die Welt, wie sie sein könnte, nicht unbedingt, wie sie ist. Das ist die Aufgabe der Kunst und Kultur im Allgemeinen: immer nach etwas Besserem zu streben.
Die Realität ist Blockvoting.
Blockvoting, also dass gewisse Länder einander Punkte zuschanzen, gab es früher. Mit der heutigen Technologie können wir aber überprüfen, ob es stattfindet, und Sanktionen gegen Länder verhängen, die es tun. Es passiert heute kaum mehr.
Offiziell ist der ESC unpolitisch. Wie politisch ist er wirklich?
Wenn man 38 Länder in einem Musikwettbewerb vereint, geschieht das im Kontext der aktuellen Weltlage. Es gibt Jahre relativer Stabilität und solche mit grossen, kontroversen Themen. Kein globaler Event kann sich dem entziehen. Wir streben jedoch an, darüberzustehen, und versuchen, durch Musik eine Botschaft der Einheit zu vermitteln. So kann ein Moment entstehen, in dem wir etwa Politikern zeigen, dass die Welt im Grunde fähig ist, miteinander in Frieden zu leben.
Letztes Jahr in Malmö gab es allerdings unschöne Szenen, die israelische Künstlerin wurde ausgebuht. Es kam zu antiisraelischen Demonstrationen. Erwarten Sie solche Szenen auch in der Schweiz?
Nein. Auch weil wir uns momentan in einer friedlicheren Phase befinden. Aber auch weil wir uns dazu viel überlegt haben. Die wichtigste Massnahme besteht darin, die Menschen schlicht darum zu bitten, es nicht zu tun. Solches Verhalten gehört nicht zum Eurovision-Spirit. Wir haben auch einen Verhaltenskodex veröffentlicht. Dieser wird von allen Besucherinnen und Künstlern unterschrieben, die das Gebäude betreten. Zudem schaffen wir Backstage-Bereiche und Proben ohne Kameras, um Künstlerinnen und Künstlern mehr Privatsphäre zu geben.
In Malmö kam es im Backstage-Bereich auch zu Auseinandersetzungen von verschiedenen Delegationen. Offenbar war auch Nemo daran beteiligt, zusammen mit …
… Moment, nicht «Auseinandersetzungen». Das ist ein zu starkes Wort. Wenn Menschen zusammenkommen, kann es zu verschiedenen Meinungen kommen.
«Die Eurovision-Familie versteht den Unterschied zwischen einer umstrittenen Flagge und einer Gemeinschaftsflagge.»
Wird die israelische Sängerin Yuval Rafael, die dieses Jahr Israel vertritt, hinter der Bühne speziell geschützt?
Sie hat sich für den Wettbewerb entschieden, weil sie Sängerin werden möchte und eine Karriere anstrebt, wie sie selbst sagt. Wir müssen darauf achten, dass wir eine Künstlerin, die eine sehr empfindliche Vergangenheit hat, nicht unnötig triggern, indem wir sie ständig daran erinnern. Sie hat klar gesagt, dass ihre Vergangenheit sie nicht definieren soll.
Wenn der ESC nicht politisch sein soll – wieso durfte Nemo letztes Jahr mit der Flagge für Nonbinarität auf die Bühne?
Ich sehe diese Flagge nicht als politische Flagge, sondern als Gemeinschaftsflagge. Der Eurovision war schon immer ein Ort, an dem Gemeinschaften aller Art willkommen sind.
Verletzte die Flagge EBU-Regeln?
Nein, absolut nicht. Meine persönliche Präferenz ist allerdings, dass wir während der Flaggenparade unter den Landesflaggen auftreten. Wir könnten andere Orte finden, an denen Gemeinschaftsflaggen sehr sichtbar präsentiert werden können.
Wo ist denn die Grenze zum Unerlaubten? Welche Flaggen sind tabu?
Das Problem mit Flaggen ist: Man kann ewig über sie reden. Sie verbinden uns, aber manchmal spalten sie uns auch. Ich denke, fast alle, die Teil der Eurovision-Familie sind, verstehen den Unterschied zwischen einer umstrittenen Flagge und einer Gemeinschaftsflagge. Und ich vertraue darauf, dass sie diese Unterscheidung erkennen.
«Gerade jetzt brauchen wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr denn je.»
Wie queer ist die Eurovision-Familie?
Wir wissen, dass es 160 Millionen Menschen gibt, die diese Show schauen, und sie kommen aus allen Lebensbereichen und allen Teilen der Welt. Letztes Jahr hatten wir Stimmen aus über 150 Ländern. Es ist unmöglich, dass das nur eine Gemeinschaft von Menschen ist. Es ist eine wahrhaft diverse Gruppe von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen zuschauen. Wenn Sie nach Basel kommen, sehen Sie Punks, Goths und Metal-Leute Seite an Seite mit queeren Menschen, schwarzen Menschen und weissen Menschen. Und genau das ist das Grossartige am Eurovision Song Contest.
Teil der ESC-Familie sind auch alle Gebührenzahler der öffentlich-rechtlichen Übertragungssender. Letztere stehen unter Druck, seit die politische Rechte in vielen Ländern das Ruder übernimmt. Und diese ist kein grosser Fan von Diversität auf Kosten der Steuerzahler.
Natürlich sind wir eine Organisation, die aus Mitgliedern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht. Und ich glaube, gerade jetzt brauchen wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr denn je, weil er eine Plattform für eine faire Debatte sein kann. Der Eurovision Song Contest war schon immer ein offener Raum. Offenheit und Willkommenskultur für alle wird stets sein Credo sein. Bisher spüre ich keinen Druck seitens der Sender, wie Sie ihn angedeutet haben.
Beim Holländer Joost Klein zeigte die EBU ein anderes Gesicht. Er wurde letztes Jahr disqualifiziert, nachdem er eine Kamerafrau angegriffen haben soll. Allerdings hat die schwedische Polizei die Ermittlungen inzwischen eingestellt. Wurde er zu Unrecht disqualifiziert?
Nein, absolut nicht. Wenn jemand eine Mitarbeiterin oder eine andere Person bedroht, müssen wir handeln. Wir könnten bei einem weiteren solchen Vorfall die Dinge vielleicht besser handhaben, aber ich stehe zu dieser Entscheidung. Unsere Verantwortung ist es, alle Beteiligten zu schützen. Und ist es nicht ironisch? In der Musik-, Film- und Unterhaltungsbranche wird intensiv darüber diskutiert, dass Menschen wie ich, die Macht und Einfluss besitzen, diejenigen schützen sollten, die verletzlich sind. Doch paradoxerweise erntet man auch Kritik, wenn man diesem Anspruch gerecht wird.
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