50 Stunden anstehen für die Queen«Es waren nur ein paar Sekunden – aber das lange Warten war es wert»
Zehntausende von Menschen stehen stundenlang geduldig an der Themse, um in Westminster Hall von ihrer toten Königin Abschied nehmen zu können. Fast sieben Kilometer lang war die Schlange am Donnerstag.
Die Fähigkeit zu geduldigem Schlangestehen ist dem britischen Nationalcharakter ja schon immer zugeschrieben worden. Jetzt haben Britinnen und Briten Gelegenheit, unter Beweis zu stellen, dass sie dazu noch immer in der Lage sind.
Fast sieben Kilometer lang war am Donnerstagnachmittag die Schlange, die sich am südlichen Themseufer entlangwand, über die Lambeth Bridge zum Palast von Westminster hinüber. Stundenlanges Anstehen nahmen die Wartenden in Kauf, um sich verabschieden zu können von ihrer in Westminster Hall aufgebahrten Königin Elizabeth.
In die riesige mittelalterliche Halle, die wundersamerweise über die Zeiten gekommen ist, war der Sarg der toten Monarchin ja am Mittwoch getragen worden, um dort unterm königlichen Banner bis zum Morgen des Begräbnisses Elizabeths, am kommenden Montag, zu liegen. Seit Mittwochabend ist es der Öffentlichkeit erlaubt, an dem violett verhängten Katafalk, auf dem der Sarg ruht, vorbeizuziehen.
3000 ziehen pro Stunde am Sarg vorbei
Einige derer, denen dieser persönliche Gang besonders wichtig war, hatten sich schon am Montag an die Spitze der Schlange gesetzt und waren nach mehr als fünfzig Stunden Warten in die Halle eingelassen worden. Die an erster Stelle marschierende 56-jährige Londonerin Vanessa Nathakumaran berichtete im Nachhinein, sie habe beim Passieren des Sargs «ein Gebet gesprochen» und der Königin von ganzem Herzen «Frieden gewünscht».
Die Nummer zwei in der Schlange, die 65-jährige Anne Daley aus Cardiff, beschrieb ihren Gang durch die stille Halle als «umwerfend und erschütternd». Es seien «nur ein paar Sekunden gewesen, aber es war ein wunderbares Gefühl und sehr feierlich». Das lange Warten, fand sie, «war es absolut wert».
Wie Nathakumaran und Daley haben seither schon Zehntausende der Monarchin der letzten siebzig Jahre die letzte Ehre erwiesen – und viele reihen sich noch immer, Minute um Minute, in die Schlange ein. 300’000 Menschen werden bis Montagmorgen erwartet. 3000 ziehen offenbar pro Stunde, rechts und links des Sargs, durch Westminster Hall.
Viele verharren für ein paar Sekunden stiller Andacht, wenn sie auf der Höhe des Sargs angekommen sind. Manche verbeugen sich feierlich oder bekreuzigen sich ehrfürchtig. Anderen fällt es schwer, die Tränen zurückzuhalten. Armeeveteranen nehmen stramm Haltung an zum militärischen Gruss.
Fast totale Stille herrscht im Saal. Plüschene Teppiche dämpfen alle Schritte. Um den Sarg herum, den die Krone und ein weisser Kranz zieren, haben sich die Gentlemen at Arms, die Royal Company of Archers, die Yoemen of the Guard und andere imposant ausstaffierte Wachtrupps mit illustren Namen postiert.
Das Gebäude ist durchgehend geöffnet. Der Zug derer, die es hierher gedrängt hat, lässt sich derweil – eine von vielen Neuerungen – im Livestream verfolgen. Manchmal wird die Übermittlung kurz unterbrochen, wenn ein schwächelnder Wachsoldat weggeschleppt werden muss.
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Ebenfalls live meldet eine Website des Kulturministeriums, wie lange die Warteschlange gerade ist, was man sich also zumutet beim Einreihen, draussen an der Themse. Für die Schlange hat man, für den Fall der Fälle, eine fünfzehn Kilometer lange Strecke am südlichen Flussufer, entlang Waterloo Bridge, London Bridge und Tower Bridge, reserviert.
Tausend Freiwillige stehen als Ordner, Helfer und Sanitäter bereit. Fünfhundert Toiletten sind aufgebaut worden. An der Tate Modern, in Shakespeares Globe Theatre und anderswo kann man sich ein Glas Gin oder einen Imbiss kaufen.
Royalisten wollen der Queen «danken»
Mit kleinen gelben Bändern fürs Handgelenk, die die jeweilige Position in der Schlange angeben, hat man beim Warten etwas Bewegungsfreiheit erhalten. Vorausgesetzt, dass die «Nachbarn» in der Schlange einen problemlos wieder an den alten Platz zurücklassen. Und das scheint überall der Fall zu sein.
Tatsächlich wird recht fröhlich geplaudert und gelacht, sind offenbar schon Freundschaften geschlossen worden unter den gemeinsam geduldig Richtung Westminster trottenden Menschen. Gelegentlich kommt auch mal jemand wie der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, vorbei, um nach der Schlange zu sehen. Er finde es ausgezeichnet, erklärte der höchste Geistliche der Staatskirche am Donnerstag, dass sich die Leute zusammentäten, um «ihr Leid zu teilen» und «nicht allein zu sein».
Gefragt, warum sie unbedingt in Westminster Hall sein wollten, erklärten sich manche der Wartenden gestern zu mehr oder weniger überzeugten Royalisten, die der Königin jedenfalls «für ihre langjährigen Dienste danken». Einige waren der Queen einmal, bei irgendeinem Anlass, begegnet. Andere bekannten, «einfach nur dabei sein» zu wollen: «Das ist doch ein historischer Augenblick, da will man dazugehören. Es ist ein erhebendes Gefühl.»
Die Ordner, die die Schlange betreuten, zeigten sich jedenfalls zufrieden mit der Disziplin der Massen. Noch funktioniere das alte System, meinten sie. Niemand habe sich vorzudrängen versucht. Unruhe unter den Wartenden löste lediglich die Nachricht aus, dass sich die 650 Unterhaus- und 756 Oberhaus-Abgeordeten und sonstige Mitarbeiter des Parlaments ohne Anstehen Zugang zu Westminster Hall verschaffen können – und dass jeder Parlamentarier sogar vier Gäste mitbringen darf.
Ein solches Privileg von Volksvertretern und Ministern finden viele der zu geduldigem Warten Gezwungenen «ganz und gar unfair», wenn nicht gar «undemokratisch». Ein beunruhigter Oberhaus-Lord vertraute der Londoner «Times» an, in dieser Frage müsse man schnellstens etwas unternehmen: Er verspüre schon «eine revolutionäre Stimmung», da draussen auf den Strassen ums Parlament.
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