Kampf um Unterstützung«Es soll eine historische Wahl werden» – beeinträchtigte Politiker wollen ins Parlament
Zahlreiche Menschen mit Handicap treten bei den eidgenössischen Wahlen an. Werden sie gewählt, sind manche auf Assistenzleistungen angewiesen. Ist Bundesbern für diese Herausforderung bereit?
Philipp Kutter kämpft im Paraplegikerzentrum in Nottwil LU täglich um kleine Fortschritte. Seit seinem Skiunfall im Februar ist der Zürcher Mitte-Nationalrat gelähmt: Inkomplette Tetraplegie lautet die Diagnose. Zu den Erfolgen der Reha gehört, dass er den Rollstuhl mit der linken Hand jetzt selber steuern kann. Kutter will im Dezember ins Parlament zurückkehren, er kandidiert sowohl für den Nationalrat als auch für den Ständerat.
In den Nationalrat einziehen will auch Islam Alijaj, der seit Geburt mit einer Zerebralparese lebt. Diese führt zu starken motorischen Einschränkungen und einer Sprechbehinderung. Alijaj steht zusammen mit weiteren 18 Kandidatinnen und Kandidaten auf der «Behindertenliste» von Pro Infirmis. Noch nie dürften so viele Menschen mit Behinderung zu eidgenössischen Wahlen angetreten sein, heisst es bei Pro Infirmis.
Alijaj hat bereits im Zürcher Gemeinderat erste Erfahrungen mit der Parlamentsarbeit gemacht. Er benötigt dafür umfassende Unterstützung. Die von der IV finanzierte Assistenzleistung reiche nicht aus, sagt der SP-Politiker. Er möchte die Frage der Assistenz fürs Parlamentsmandat bereits vor den Wahlen geklärt haben und versucht Kutter für das Anliegen zu gewinnen. Deshalb ist er nach Nottwil gereist.
Es gehe ihm nicht in erster Linie um sich selbst, betont er im Gespräch mit Kutter. «Es soll eine historische Wahl werden, bei der mehrere Kandidierende mit Behinderungen gewählt werden», sagt Alijaj. Kutter wünscht er den Einzug in den Ständerat, damit Behindertenanliegen auch in der kleinen Kammer vertreten würden.
«Ich bin sozusagen ein Novize», sagt Kutter
Während Alijaj seinen Bedarf an Assistenzleistungen bereits jetzt genau kennt, muss sich Kutter erst in der neuen Situation zurechtfinden. Um den Anpassungsbedarf am Arbeitsplatz abzuklären, war er bereits im Stadthaus Wädenswil, wo er Stadtpräsident ist. Der Besuch in Bern steht noch bevor. Er hofft, dass er mit der Unterstützung der Ratsweibel im eidgenössischen Parlament zurechtkommen wird. Wenn überhaupt, dürfte er nur einen geringen Bedarf an persönlicher Assistenz haben. Diese könne er möglicherweise aus dem Budget für persönliche Mitarbeitende finanzieren. Vieles hänge aber von den Fortschritten bei der Rehabilitation ab, sagt der Zürcher Nationalrat.
Während Alijaj seit seiner Kindheit für Gleichberechtigung kämpft, ist Kutter erst seit fünf Monaten mit den alltäglichen Hindernissen konfrontiert, die Menschen mit Behinderung im Weg stehen. «Ich bin sozusagen ein Novize.» Für Kutter ist klar: «Wir müssen einen Weg finden, damit jedes Ratsmitglied mit Behinderung seine politischen Aufgaben wahrnehmen kann.»
Alijaj formuliert klare Erwartungen an die Behörden in Bundesbern. Er geht für die Parlamentsarbeit von 140 Stellenprozent aus, die er auf zwei Assistenzpersonen aufteilen will. Zurzeit finanziert ihm die IV insgesamt 155 Stunden Assistenz pro Monat für den privaten Bereich und sein Parlamentsmandat. Er benötigt Unterstützung nicht nur im eigentlichen Ratsbetrieb. Der 37-Jährige braucht auch Hilfe bei feinmotorischen Tätigkeiten, bei Schreibarbeiten und beim Reden. Mit dabei ist immer eine Sprechassistenz, die Alijajs Sätze zur besseren Verständlichkeit wiederholt. Zudem muss er beim Reisen begleitet werden.
Die Unterstützung für Ratsmitglieder mit einer schweren Behinderung müsse rechtzeitig thematisiert werden, sagt Simone Leuenberger, die bei der Behindertenorganisation Agile als Spezialistin für Assistenzleistungen tätig ist. Sie sitzt für die EVP im Berner Kantonsparlament und kandidiert ebenfalls für den Nationalrat. «Die Assistenzleistungen der IV reichen bei weitem nicht aus für ein politisches Amt», sagt sie. Je nach Schwere der Behinderung stünden Gewählte im Herbst vor konkreten Problemen. Denn ein National- oder Ständeratsmandat würde von der IV wohl als Erwerbstätigkeit betrachtet. Und für eine solche gewährt die IV maximal 2 Stunden Assistenz pro Tag – und das für eine 100-Prozent-Stelle, was das Nationalratsmandat nicht ist.
Über vier Minuten für Lift
Ein weiteres Problem haben Gewählte, die eine IV-Rente beziehen. Sie müssen damit rechnen, dass ihre Rente gekürzt oder gestrichen wird. Und bei einer Abwahl aus dem Parlament hätten sie unter Umständen Mühe, wieder eine Rente zu bekommen, sagt Leuenberger. Vor dieser Situation steht Alijaj. Er erhält zurzeit eine volle IV-Rente und geht davon aus, dass er diese bei einer Wahl in den Nationalrat verliert. Bei einer späteren Abwahl könnte ihm die Rente verweigert werden, weil er mit dem Nationalratsmandat zeigen würde, dass er erwerbsfähig ist.
Simone Leuenberger ist berufstätig, bezieht keine IV-Rente, erhält aber Assistenzleistungen für den privaten und den beruflichen Bereich. Sie selbst spüre bei ihrer jetzigen Arbeit im Kantonsparlament sehr viel Wohlwollen von Ratskolleginnen und -kollegen. Schwieriger werde es, wenn es um Geld für bauliche Massnahmen gehe. Im Berner Rathaus muss sie einen Treppenlift benutzen, der viereinhalb Minuten für eine Fahrt braucht. Einen anderen Personenlift gibt es nicht.
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Die EVP-Politikerin geht davon aus, dass der Bund für eidgenössische Parlamentarierinnen und Parlamentarier die notwendige Assistenz finanzieren müsste. Schliesslich hätten diese einen Auftrag als Volksvertreter. Leuenberger verweist dabei auch auf das Behindertengleichstellungsgesetz und die von der Schweiz ratifizierte UNO-Behindertenrechtskonvention. Die IV hingegen könne keine Assistenzleistungen ausrichten, die über die gesetzlichen Regelungen hinausgingen.
Nationalratspräsident: «Wir sind bereit»
«Die Parlamentsdienste werden alles Notwendige vorkehren, damit für Gewählte die Arbeit im Parlamentsgebäude selber gewährleistet ist», sagt Nationalratspräsident Martin Candinas. «Wir sind bereit. Dies hat schon die Behindertensession im Juni gezeigt.» Für Menschen mit einer Gehbehinderung sei das Parlamentsgebäude bereits ausgerüstet. Für weitere Anpassungen, die allenfalls nötig würden, bleibe nach den Wahlen im Oktober genügend Zeit, sagt Candinas. Dies wäre etwa der Fall, wenn jemand Sprechassistenz benötige. Für die Unterstützung ausserhalb des Ratsbetriebs sind die Parlamentsdienste jedoch nicht zuständig.
Mitte-Nationalrat Christian Lohr wurde 2011 gewählt und bewältigt die Parlamentsarbeit ohne Assistenzleistungen der IV. Er ist ohne Arme und mit deformierten Beinen geboren worden. Im Ratsbetrieb werde er von den Weibeln sowie von Ratskolleginnen und -kollegen ausreichend unterstützt, sagt er. Die berufliche Assistenz ausserhalb des Parlamentsgebäudes organisiere und finanziere er selbst. «Dass die Parlamentsdienste für den Ratsbetrieb die notwendige Unterstützung gewährleisten müssen, ist für mich selbstverständlich, wenn jemand vom Volk gewählt ist.» Entsprechende Schritte könnten die Parlamentsdienste aber erst unternehmen, wenn jemand gewählt sei.
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