Angeblicher Antisemitismus-Vorfall«Es geht mir nicht um die Kette»
Die Polizei zweifelt daran, dass der Sänger Gil Ofarim antisemitisch beleidigt wurde. Sollte sich der Verdacht erhärten, wäre das nicht nur für den Musiker ungut.
Gil Ofarim hat nun also in einem Interview gesagt, es sei gar nicht wichtig, ob die Kette mit dem Davidstern beim Einchecken ins Hotel zu sehen war. «Es geht hier nicht um die Kette. Es geht eigentlich um was viel Grösseres.» Das klang seltsam vage und weichgespült. Das klang ganz anders als noch zwei Wochen zuvor.
Da hatte der 39 Jahre alte Musiker vor eben jenem Hotel in Leipzig auf dem Bürgersteig gesessen und ein Video aufgenommen, in dem er stellenweise mit den Tränen kämpfte. Man habe andere beim Einchecken vorgezogen und ihn warten lassen. Jemand habe aus einer Ecke gerufen: «Pack deinen Stern ein!» Worauf der Hotelangestellte angeordnet habe: «Packen Sie Ihren Stern ein.» – «Wirklich?», sagte Ofarim zu seinen 155'000 Instagram-Followern, wischte sich über die Augen und hielt den Davidstern in die Kamera. «Deutschland 2021.» Und dieses Deutschland, in dem Antisemitismus wieder zum Tagesgeschäft gehört, glaubte ihm.
Wenn es eine ständige Begleiterin gibt im Leben des als Gil Doron Reichstadt geborenen Ofarim, so ist es die Öffentlichkeit. Mit neun Jahren ruhte in der Münchner Olympiahalle ein Scheinwerfer auf ihm, während die Bee Gees oben auf der Bühne unplugged «Morning of My Life» sangen, einen Hit seines weltberühmten Vaters Abi. Im Elternhaus gingen Musiker ein und aus, die Gitarre war für ihn das, was für andere Jungs die Lego-Eisenbahn ist, Vertrautes und Fluchtvehikel zugleich.
Vom Titelboy der «Bravo»-Lovestory zum Teenie-Star
Er hat nie Musikunterricht bekommen, nicht die Schule abgeschlossen, keine Ausbildung gemacht. Brauchte er auch nicht. Mit 14 wurde er Titelboy in der Foto-Lovestory der Bravo, es folgte die erste Single. Danach war Gil Ofarim, der Junge mit den langen Haaren und dem Schmachtblick, ein paar Jahre lang Teenie-Star mit Millionen verkaufter Platten und Auftritten in der Vorgruppe von Jon Bon Jovi. Tausende ekstatische Mädchengesichter, die sich an der Scheibe seiner Limousine platt drückten. Und dann – war es wieder vorbei.
Das weitere Wirken des Gil Ofarim kann man so begreifen, dass er sehr viele Talente besitzt. Man kann auch finden, dass er vom Scheinwerferlicht partout nicht lassen kann. Möglicherweise stimmt beides. Er macht immer noch Deutschrock, der keinem wehtut, war aber auch Radiomoderator, Synchronsprecher, Schauspieler, Hauptdarsteller im Musical «Hair» in Magdeburg, Halbfinalist bei «The Voice of Germany» und Gewinner der Tanz-Show «Let's Dance» auf RTL.
Vor grossem Publikum lässt er auch Teile seines Privatlebens ausleuchten. Ausführlich hat er über sein Burn-out, die Geburt der beiden Kinder und die Liebe zu seiner Ehefrau Verena gesprochen. Die Ehe wurde nach vier Jahren trotzdem geschieden, ein Sorgerechtsstreit schloss sich an. Sohn und Tochter leben heute bei ihm in München.
Derzeit steht Aussage gegen Aussage
In einem Interview hat Gil Ofarim mal erzählt, wie es war, als jüdischer Sohn eines israelischen Vaters und dessen dritter Frau Sandra Reichstadt aufzuwachsen. «Manchmal lag bei uns Hundekot im Briefkasten, wir bekamen Drohbriefe oder Sprüche zu hören wie: ‹Weisst schon, Dachau ist nicht weit weg von hier.›» Vor diesem Hintergrund ist es doppelt ungut, dass nun der Verdacht der Täuschung über ihm schwebt – ungut für Ofarim selbst, vor allem aber für die mehr als 90'000 in Deutschland lebenden Juden. Rechte Agitatoren könnten darin eine Vorlage sehen, um antisemitische Beleidigungen als «niederträchtige Lüge» (so heisst es bereits auf Twitter) darzustellen.
Nach Zeugenbefragungen und der Auswertung des Hotelvideos jedenfalls gibt es Zweifel, ob der Streit über die Kette wirklich so stattgefunden hat, der Davidstern am Hals des Sängers überhaupt sichtbar war. Die Leipziger Polizei setzt ihre Ermittlungen fort, Aussage steht gegen Aussage. Bis das Ergebnis vorliegt, gilt jetzt für beide Seiten der benefit of the doubt.
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