Geschlechtstransition im Video-Tagebuch «Es fühlt sich an wie ein Kampf zwischen meinem Körper und meiner Seele»
Trish Benvenutti ist nonbinär, nimmt Hormone und hat sich die Brüste entfernen lassen. Die Gesellschaft hat wenig Verständnis dafür. Und prägt damit Trishs Leben bis heute.
Trish versteht früh, dass etwas anders ist. Als mit 11 Jahren die Mens einsetzt, wird es endgültig klar. Monat für Monat kommt die Erinnerung, dass da unten eine Gebärmutter, Eierstöcke und eine Vulva sind, aus der Trish blutet. Und die Brüste – sie werden grösser und grösser. Bis Trish schliesslich Körbchengrösse E trägt. Das ist eine schwere Last. Körperlich und psychisch.
Mit der Mens muss Trish eine Neutralität aufgeben, in der sich Trish immer wohlfühlt. Fussballspielen mit dem Bruder wird etwas Männliches, Schminken mit der Schwester etwas Weibliches.
Blau oder Rosa? Entscheide dich!
«Ich will mich nicht aufdrängen»
Trish kann sich nicht entscheiden. Und kann es auch heute, mit 37 Jahren, nicht. Trish bezeichnet sich als nonbinär, assoziiert sich weder mit dem weiblichen noch mit dem männlichen Geschlecht. Trish will in diesem Text ohne Pronomen auftreten. Deshalb kommt Trishs selbst gewählter und rechtlich anerkannter Vorname sehr häufig vor.
Dass dieser «Sonderwunsch» vielen Leserinnen und Lesern nicht gefallen wird, ist Trish bewusst. Noch vor unserem ersten persönlichen Gespräch betont Trish deshalb: «Ich will mich nicht aufdrängen, niemanden vor den Kopf stossen. Ich überlasse es jeder Person selbst, ob sie meine Geschichte hören will oder nicht – sonst wäre ich ihnen gegenüber nicht tolerant.»
Die blutigen Andenken an früher sind Geschichte. Trish befindet sich mitten in der Transition, die vor rund zwei Jahren unter medizinischer Begleitung begonnen hat. Trish hat jeden einzelnen Schritt auf diesem Weg dokumentiert. Was die Transition mit dem Körper macht. Und das, was sie im Kopf auslöst. Trishs Tagebuch ist persönlich – und doch für die Öffentlichkeit gedacht. Nicht, um andere zu animieren, wie Trish sagt, und auch nicht, um verstanden zu werden. Sondern weil Trish sich früher gewünscht hätte, dass jemand zeigt, was alles dazugehört.
Trish nimmt am 23. November 2020 das erste Video auf.
«Ich bin kurz vor meinem ersten Termin am ‹Schwerpunkt für Geschlechtervarianz› am Universitätsspital Basel. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Ich bin sehr nervös. Ich bin als Mensch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren worden. Ich habe mich aber nie damit angefreundet – nie. Das wird jetzt auch gerade ein Outing für viele meiner Freunde und einen Teil meiner Familie. Entschuldigt, dass ich das so tue! Ich will mit diesen Testimonials eine Stütze für andere sein. Weil ich finde, man muss nicht 35 Jahre alt werden wie ich, um endlich zu sich selbst zu stehen.»
Einige Stunden später hält Trish fest:
«Ich bin erschöpft. Ich musste mir noch nie selbst solche Fragen stellen, noch nie so viel über mich selbst reflektieren. Über meine Eltern, meine Schulzeit, über meine Sexualität. Ich musste wissen, ob ich dominant bin oder nicht. Was mir echt in Erinnerung bleiben wird: Der Arzt fragte mich am Anfang, wie ich denn gerne angesprochen werden wolle. Mit ‹sie› oder ‹er›. Vorher haben alle einfach ihr Urteil gefällt. Mann, Frau, Zwitter. Ich danke dem Arzt von Herzen für diese Frage.»
Rund zwei Jahre später treffe ich Trish das erste Mal persönlich. Es ist Oktober 2022, und wir sitzen in der Zürcher Bar Gleis. Trish trägt ein schwarzes T-Shirt, hat die kurzen Haare blond gefärbt. Unter dem Tisch wedelt Blue mit dem Schwanz. Die junge Hündin sei noch am Dazulernen, sagt Trish mit tiefer Stimme. Trish arbeitet im Bierwerk auf der anderen Seite der Gleise.
«Gibt es etwas, das ich nicht fragen darf?», lautet meine erste Frage. «Mit Respekt im Tonfall ist jede Frage okay», antwortet Trish. Auch mal ein falsches Pronomen sei kein Problem. «Ich missgendere mich auch ständig. Mit den Hormonblockern kam bei mir ja nicht automatisch die genderneutrale Sprache.» Trish lächelt.
Die Sprache – wir sind gleich mitten im Thema. Immer mehr Menschen passen sie an, motiviert durch nonbinäre Menschen, die an die Öffentlichkeit treten. Wie etwa Kim de l’Horizon, die Person, die 2022 den Schweizer und den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Im autobiografischen Roman «Blutbuch» beschreibt de l’Horizon das Leben und Aufwachsen zwischen den Geschlechtern. Symbolisch setzen viele Menschen Pronomen über ihre Social-Media-Profile, diskutieren über den Genderstern, betonen beim Sprechen den Doppelpunkt – alles, um inklusiv zu sein, solidarisch mit einer Minderheit.
Die Schweiz sei «noch nicht bereit dafür», sagt der Bundesrat – noch nicht bereit für Menschen wie Trish.
Genauso schnell wie sich die Sensibilität für Inklusion entwickelt, formiert sich der Widerstand. Die SVP verabschiedet derzeit ein Programm gegen den «Gender-Wahnsinn» und will nach eigenen Angaben auf allen politischen Ebenen Vorstösse einreichen, um das Gendern zu verbieten. Ende vergangenen Jahres hat der Bundesrat über das dritte Geschlecht abgestimmt. Mit folgendem Ergebnis: Die Schweiz sei «noch nicht bereit dafür» – noch nicht bereit für Menschen wie Trish.
Trish sagt, ein Teil der Gesellschaft versuche vorwärtszugehen, während ebendies dem anderen Teil viel zu schnell gehe – «er fühlt sich irgendwie bedroht». Trish steht gefühlt irgendwo dazwischen. «Es gibt heute megaviele Informationen online. Immer mehr Labels. LGBTQIA+. Ich bin selbst eher schlecht mit diesen Begriffen und wusste lange nicht, was alles bedeutet.»
Trish googelte. Lernte dazu. Trish schaut zu Blue, die am Bein hochspringen will. «Nein, Blue! Nein!» Und fügt an: «Alles ist lernbar, wenn man will.»
Eine Woche nach dem ersten Termin am «Schwerpunkt für Geschlechtervarianz», am 1. Dezember 2020, verfasst Trish einen weiteren Tagebuchbeitrag.
«Meine Genderdysphorie zeigt sich bei mir in einem ausgeprägten Magerwahn. Ich mache alles, um möglichst keine weiblichen Kurven zu haben. Ich habe eine Fitbit-Uhr, zähle ständig meine Kalorien. Es beherrscht mein Denken, meinen Alltag. Heute habe ich für meine Verhältnisse viel gegessen. Ich schaue in den Spiegel, und mein Hirn sagt mir: Da sind nun die weiblichen Hüften. Jetzt spüre ich den Zwang, Sport zu machen, bis ich umfalle. Es ist schwer, darüber zu sprechen, aber ich will nichts verschönern. Es fühlt sich an wie ein Kampf zwischen meiner Seele und meinem Körper. Mein Inneres fühlt sich anders an als mein Äusserstes. Ich will vor diesen Gefühlen nicht mehr fliehen.»
Von Genderdysphorie spricht man, wenn das biologische Geschlecht einer Person nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt. Der Weg – Trishs Transition – beinhaltet viele medizinische Untersuchungen. Grundlage für zukünftige medizinische Eingriffe ist ein «Indikationsschreiben», das Trish vom Institut für Geschlechtervarianz in Basel erhält.
Für das Indikationsschreiben muss Trish nach der ersten Konsultation mit dem Psychiater in einem Zweitgespräch mit einer Gesundheitsfachperson einen Fragebogen ausfüllen, Kreuze setzen zwischen 0 und 100 – von «sehr männlich» bis «sehr weiblich». Wo bin ich, wo wäre ich gerne, in Bezug auf die Stimme, auf die Brust, aber auch in sozialen Bereichen.
Wenige Tage später, am 5. Dezember 2020, hält Trish den Bericht in den Händen. Und sagt:
«Ich bin so wütend. In diesem Bericht stehen Dinge, die reine Interpretation sind. ‹Sie hat kurze Haare und kleidet sich männlich.› Die Person, die mich beurteilt hat, hat mich genau mit den Stereotypen beurteilt, die ich nicht will. Ich sei dominant, gross und kräftig. Einfach weil diese Dinge gesellschaftlich als männlich gelten? Es stimmt nicht mal: Ich kleide mich nur nicht körperbetont. Und was soll das schon über mich aussagen? Es stand auch: ‹Sie will aber keinen Penis haben, um sich als Mann zu fühlen.› Muss man denn einen Penis haben, um ein Mann zu sein? Ich fühle mich schubladisiert. Schon wieder. Ich merke das auch in meinem Umfeld. Ich höre oft: ‹Sie will jetzt ein Mann werden.› Es gibt für die meisten einfach männlich, weiblich, trans – nichts dazwischen.»
Nach diesem Schreiben hat Trish nicht mehr nur das Gefühl, sich vor der Gesellschaft rechtfertigen zu müssen, sondern auch vor der Medizin. Psychiater und Geschlechtervarianzexperte David Garcia Nuñez hat den neu genannten «Innovations-Focus für Geschlechtervarianz» am Universitätsspital Basel aufgebaut. Mit ihm hatte Trish Ende 2020 das erste Gespräch. Er kann Trishs Unmut nachvollziehen. «Die Gesellschaft», sagt Garcia Nuñez, «gibt diesen Menschen bis heute keine Stimme. Da spielen auch Medizinerinnen und Mediziner eine entscheidende Rolle.»
Der Psychiater kämpft in der Medizin und politisch für einen neuen Umgang mit trans Menschen. Er geht so weit, Trans-Sein als eine «menschliche Qualität wie die Hautfarbe» zu beschreiben. Und kritisiert, dass das Geschlecht einzig anhand des genitalen Aussehens bestimmt wird. «Bei Geburt schauen wir den Kindern zwischen die Beine. Wir untersuchen nicht, welcher biologische Fakt jemanden männlich oder weiblich macht», sagt er.
Ich frage nach den – für mich eindeutigen – XX- und XY-Chromosomen. «Es gibt unzählige Menschen, die eben nicht so schön XX und XY haben», antwortet Garcia Nuñez. «Die Natur denkt nicht in Kategorien. Die Natur denkt überhaupt nicht. Wir Menschen tun das.»
18. Dezember 2020:
«‹Schau mal, diese Missgeburt!› ‹Haltet sie fest, wir ziehen ihr die Hosen runter, dann wissen wir, was sie ist.› ‹Mit dem würde ich nie im Leben Sex haben, ich weiss ja nicht mal, was das ist!› Diese Sprüche habe ich gehört. Das habe ich diese Woche meiner Mutter erzählt, als sie mich gefragt hat, wieso ich mich denn nie geoutet habe. Ich erklärte ihr, wie schwierig es war. Dass man sich selbst im engsten Familienkreis für mich geschämt hat. Auch Lehrerinnen und die Eltern meiner Mitschülerinnen und Mitschüler redeten über mich. Sie dachten, ich höre sie nicht. Aber Kinder spüren fast alles. Im Gespräch mit meiner Mutter merkte ich, dass ich vieles verdrängt habe. Durch diesen Prozess, den ich jetzt mache, schaue ich hin. Ich merke, es ist der richtige Weg, den ich jetzt einschlage. Danke, Mama, dass du das akzeptierst.»
Wir kommen in der Gleis-Bar auf Trishs Kindheit zu sprechen. Trish ist in Zürich-Schwamendingen aufgewachsen. Hat lange Fussball gespielt und interessierte sich für alles Mechanische. Autos, Maschinen. Dinge, die man mit Männlichkeit in Verbindung bringt. Deshalb hatte Trish früher mehr männliche als weibliche Vorbilder. Als Kind war das erst gar kein Problem. «Mühe hatten damals eher die Erwachsenen, die Eltern meiner Freunde. Sie haben ihren Kindern verboten, mit mir Zeit zu verbringen», sagt Trish. In der Oberstufe hätten die Kinder dann angefangen, das Gerede ihrer Eltern zu übernehmen.
Am wichtigsten war es Trish damals, dem eigenen Vater zu gefallen. «Weil ich das nicht mit meinem Aussehen schaffte, versuchte ich es mit Leistung. Im Sport, in der Schule. Ich mass mich immer mit meinem Bruder, der dasselbe machte wie ich», sagt Trish und hält inne. «Er wurde in den Himmel gelobt. Und ich nicht.»
Ungefähr mit 20 holte sich Trish Hilfe von einem Psychologen. Trish brauchte zehn Jahre, um die Anfeindungen und Ausgrenzungen der Kindheit zu verarbeiten. «Wenn man sich ständig mit seiner Identität auseinandersetzen muss und dabei auf Ablehnung stösst, macht es dich irgendwann kaputt. Ich denke, auch deshalb ist die Suizidrate in der queeren Szene so hoch.»
9. Januar 2021:
«Ich hatte heute den ersten Seminartag vom Zürcher Ressourcenmodell (ein Selbstmanagement-Training im Rahmen der Universität Zürich, A. d. R.), an dem ich als nonbinäre Person teilnehme. Es geht um Identitätsstärke. Es gab für mich so viele Triggerpunkte. Als es darum ging, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, traf es mich mit aller Wucht. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich aus meinem Körper ‹rausschälen› will. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl. Und ich beneidete andere Teilnehmende, die schon wissen, wer sie sind. Ich bin noch nirgends. Und das stresst mich so sehr, dass meine Essstörung stärker wird und ich noch mehr Sport machen will. Aber es zeigt auch, dass es vorwärtsgeht. Und das ist gut so. Mir fehlt gerade einfach die queere Community. Ich fühle mich unglaublich alleine.»
In Trishs urbaner, queerer Community kämen nonbinäre Personen heute gut an, im Ausgang fühle sich Trish oft wie ein Magnet. Es sei, als ob jeder mit einer nonbinären Person Sex haben will. «Das ist für mich nur schwer nachvollziehbar. Früher wurde ich bespuckt, und heute rennt mir ein Teil der Gesellschaft hinterher?» Hinzu komme, dass es immer mehr grosse Labels gebe, die Queerness verkauften.
«Ein Trend?», frage ich.
«Schwierig», sagt Trish. «Ich glaube nicht, dass es heute mehr nonbinäre Personen gibt als früher. Damals wusste man einfach nicht, was mit einem los ist.» Trish schaut zur Hündin Blue, die mittlerweile eingeschlafen ist. «Ich finde es gut, dass die Gesellschaft heute offener ist. Aber schon auch gefährlich – Scheisse, meine Community wird mich verfluchen, dass ich das sage.»
Trish zögert, sucht die richtigen Worte, um niemanden zu verletzen. «Es kommt mir vor, als ob sich einige Menschen heute ihre Queerness wie eine Handtasche anziehen. Die Gefahr ist, dass sie die Handtasche irgendwann wieder austauschen wollen. Und das kann Menschen wie mir schaden.»
«Weil sie es nicht ernst meinen?», frage ich nach.
«So einfach ist es nicht. Früher, wenn man mir gesagt hätte: Entscheide dich für eine Seite, dann hätte ich mich wohl zu einem Mann umoperieren lassen. Und ich glaube nicht, dass ich heute glücklich wäre mit dieser Entscheidung.»
Man müsse sich Zeit lassen, sagt Trish. Nur gebe dir die Gesellschaft diese Zeit nicht – weder damals noch heute. «Wir geben uns keinen sicheren Raum, um zu sagen: Ich glaube, ich fühle mich nicht wohl in meinem biologischen Geschlecht. Es ist immer noch nicht vollumfänglich möglich, als männliche Frau oder als weiblicher Mann zu leben. Dass die Welt alles in männlich und weiblich, in Mann und Frau, teilt, führt für mich zu voreiligen Entscheidungen.»
«Geschlechterschmerz», so nennt der Arzt Garcia Nuñez Spannungen, die sich über eine längere Zeit erstrecken.
Voreilige Entscheidungen, nur eine Phase, alles bereuen. Auch David Garcia Nuñez kennt die kritischen Stimmen. Diejenigen, die sie äusserten, hätten oftmals eher Mühe damit, dass eine Person wage, unsere Geschlechterordnung – unser Sicherheitsdispositiv – infrage zu stellen, sagt der Experte. Langjährige Untersuchungen zeigten, dass Menschen, die eine Transition machten, zu 95 bis 98 Prozent zufrieden mit dem gewählten Weg seien.
Garcia Nuñez betrachtet Transmenschen als Patientinnen und Patienten mit einer komplexen Symptomkonstellation. Er unterscheidet zwischen Körper, Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle.
Der Körper: Er ist «reines Schicksal», sagt Garcia Nuñez.
Mit Geschlechtsidentität ist die eigene Wahrnehmung vom und das Zugehörigkeitsgefühl zum Geschlecht gemeint. Sie formiere sich nach aktuellem Forschungsstand zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat eines Kindes. Man wisse jedoch bis heute nicht, welche biologischen, psychischen und sozialen Faktoren dazu führten.
Und schliesslich die Geschlechterrolle. Sie wird definiert nach dem, wie man sich kleidet, bewegt, wie man spricht und sich nach aussen hin gibt.
Im Dreieck dieser drei Konzepte könne es zu Spannungen kommen. Garcia Nuñez bezeichnet solche, die sich über eine längere Zeit erstrecken, als Geschlechtsdysphorie oder, verständlicher: «Geschlechterschmerz».
Dieser ist laut dem Experten «nie cool» und sollte nicht als Trend abgestempelt werden. Man passe nirgends dazu. Das wirke sich enorm auf die psychische Gesundheit dieser Menschen aus. «Wenn ich also die Wahl zwischen einem Neuroleptikum und Östrogen habe, dann entscheide ich mich immer für die Hormone, egal in welchem Alter.» Die Nebenwirkungen von Hormonen seien viel kleiner. Einzig der Stimmbruch bei trans maskulinen und nicht binären Personen könne nicht rückgängig gemacht werden. Aber diese Veränderung sei gerade von diesen Menschen gesucht.
Trish hat sich die Brüste mit 20 stark verkleinern lassen – aus gesundheitlichen Gründen. In einem «äusserst schmerzhaften Prozedere», wie Trish sagt. Weil auf die Operation einige Komplikationen folgten, hat Trish fast das ganze Brustvolumen verloren. Ein Erlebnis, das Trish heute als «Glück im Unglück» bezeichnet.
Trish will es sich offenlassen, ob der Weg nicht doch noch in der «Kategorie Mann» endet. Mit dem Indikationsschreiben in der Hand kann Trish Mitte Januar 2021 zu einem Hormonspezialisten, der Trishs Blutwerte untersucht. In einem zweiten Treffen verschreibt er Trish Hormonblocker, sodass Trish weder Östrogen noch Testosteron produziert.
Die Hormonblocker spritzt sich Trish fortan einmal im Monat, um dann 24 Stunden später das Testosteron zu nehmen.
Am 3. März 2021 ist es so weit: Trish trägt zum ersten Mal Testosterongel auf der Innenseite der Oberschenkel auf. In mehreren darauffolgenden Tagebuchbeiträgen erklärt Trish, was es auslöst.
«Es ist eine Achterbahnfahrt. Ich bin manchmal sehr launisch, dünnhäutig und ungeduldig, ich fühle mich auch teilweise grippig. An anderen Tagen strotze ich vor Energie, vor allem wenn ich 4 Portionen nehme. Ich will mit dieser Dosierung weiterfahren und bespreche das mit meinem Arzt. Ich spüre meinen Unterleib. Die rechte Seite drückt. Aber ich bin stärker. Ich bekomme trotz Krafttraining keinen Muskelkater mehr. Die Klitoris wuchs ab Tag 7. Sie fühlt sich geschwollener und fleischiger an. Und sie wurde empfindlicher, ist stärker durchblutet. Der Sex ist viel intensiver so.»
«Hunger, Essen, Lust auf Sex und wieder von vorne. Das macht mein Hormonhaushalt gerade mit mir. Ich muss viel mehr essen, weil ich viel mehr verbrenne. Wenn ich zu wenig esse, klappe ich zusammen. Der Puls fällt, ich bekomme heiss, mein Körper ist gestresst. Jetzt habe ich richtig gegessen und mein Kreislauf ist zurück. Jetzt friere ich wieder. Und jetzt habe ich wahnsinnig Lust auf Sex. Es klingt zwar lustig, aber es ist wahnsinnig anstrengend.»
Wenige Tage später schreibt Trish: «Ich habe mich heute das erste Mal im Spiegel angeschaut und gedacht: Sieht gar nicht mal so schlecht aus.»
In der Gleis-Bar erklärt Trish die äusserlichen Veränderungen. Wie die Haut dicker wurde, sich das Fett auf der Hüfte nach vorne bewegt hat und die Haare wachsen – überall. Testosteron sorgt auch für mehr Muskeln, dichtere und längere Knochen und regt die Bildung von roten Blutkörperchen an. Wohl deshalb fühlt sich Trish deutlich leistungsfähiger.
Ab Frühling 2021 folgt im Tagebuch eine ruhige Zeit. Die Beiträge nehmen ab, werden kürzer. Erst am 9. Oktober 2022 macht Trish den folgenden Beitrag.
«Ich hadere gerade mit meiner Entscheidung. Ich habe Chaos im Kopf. Ich nehme seit eineinhalb Jahren Testosteron und bin an einem Punkt, an dem ich zweifle. Ich glaube, es passt kein Pronomen zu mir. Beim Arbeiten merkte ich, dass, wenn mich jemand männlich liest, es für mich okay ist. Dann bekomme ich aber Panik, dass man mich sozusagen als Frau entlarven könnte. Ich fühle mich momentan in sogenannten Männer-Gruppen wohler. Ich messe mich an ihnen, vergleiche mich mit ihnen. Das löst Ängste in mir aus. Was, wenn das Pronomen ‹er› besser zu mir passt? Wow, es ist das erste Mal, dass ich das laut ausspreche. Ich schlafe nicht gut seit einer Woche, mein Kopf ist so voll.»
Ich besuche Trish ein zweites Mal im Dezember 2022, um über diesen Tagebucheintrag zu sprechen. Mit am Esstisch in der Wohnung in Urdorf sitzt Jacks, Trishs Verlobte. Auf dem Sitzplatz, wo gerade Hündin Blue herausspringt, hat das Paar eine «Ehe für alle»-Fahne aufgehängt. Die Hochzeit ist für 2023 geplant.
Jacks war von Anfang an Trishs Seite. «Ich habe Trish immer gesagt, es ist dein Körper. Mir ist es egal, in welche Richtung es geht», sagt sie und drückt Trishs Hand. «Seit ich meine Zweifel geäussert und laut ausgesprochen habe, dass vielleicht die männlichen Pronomen besser zu mir passen könnten, ist der Druck wieder etwas weg», sagt Trish und hält inne.
Ob es die Gesellschaft sei, die Trish nach wie vor zu Eindeutigkeit dränge? «Es wäre halt einfacher, die männlichen Pronomen zu benutzen – zumindest für meine Mitmenschen. Aber ich zweifle nicht am Weg, ich zweifle am Ziel.»
Das Testosteron habe Trish verändert, sagt Trishs Verlobte. Trish sei egoistischer und weniger zuvorkommend als früher.
Es scheint, als brauche Trish den Weg über Hormone, über Spritzen, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Trish hebt die Hormonblockerspritze, die auf dem Tisch liegt, in die Luft: «Das erste Mal hat sie mir Jacks in den Po reingehauen.» Beide müssen über die Erinnerung lachen. Das Testosterongel wirkt neben der Spritze geradezu harmlos. Es unterscheidet sich äusserlich kaum von einem Duschschaum.
Und doch hat das Gel Trish verändert. Gewisse Züge hätten sich stärker oder weniger stark ausgeprägt, sagt Jacks. Trish sei egoistischer, weniger aufmerksam, weniger zuvorkommend als früher. Wir mutmassen gemeinsam, ob das nun klischierte Vorstellungen von Männereigenschaften sind, die Jacks wiedergibt. «Ich finde, Menschen mit Testosteron haben es leichter. Menschen, die menstruieren, schwerer», sagt Trish und bringt uns zum Lachen.
«Nein, ernsthaft. Ich glaube, es ist, weil ich mehr bei mir bin. Ich bin ausgeglichener. Kann mich besser abgrenzen und denke weniger an andere», fährt Trish fort. «Früher habe ich eine Situation sofort als bedrohlich wahrgenommen. Ich habe die Strassenseite gewechselt, wenn mich jemand komisch anschaute. Heute tue ich das nicht mehr – ich bin mutiger. Ist es das Testo? Habe ich einfach mehr Selbstbewusstsein? Ich weiss es nicht, und es ist mir egal.»
Andere Veränderungen machen Trish mehr Sorgen. Seit der Stimmbruch eingesetzt hat und Trish nicht mehr wirklich hoch sprechen kann, werde es unmöglich, Glück oder Freude zu zeigen. Auch weinen sei schwieriger geworden. «Früher war das Weinen wie ein Ventil für mich. Beim Streiten mit Jacks zeigte ich damit, wo meine Grenzen liegen.»
Im letzten Jahr nahmen auch die Probleme mit dem Kreislauf, mit der Haut, mit der Libido zu. Am 18. November 2022 hält Trish einen Tiefpunkt fest:
«Mit meinem Hormonspiegel ist etwas nicht in Ordnung. Ich zittere in den Beinen, mein Blutzuckerwert fällt immer wieder. Ich trainiere jetzt 4-mal die Woche mit schwereren Gewichten. Es drückt mir das Testosteron irgendwie hoch, so fühlt es sich jedenfalls an. Und meine Libido ist richtig anstrengend. Ich denke nur an Sex, und es fühlt sich wirklich so an, als wäre ich die ganze Zeit hart. Es klingt jetzt viel lustiger, als es für mich ist. Ich habe diese Hitzeschübe, wenn ich etwas esse, wird es mir danach übel. Neuerdings kriege ich auch diese aggressiven Schübe. Wenn Kundinnen und Kunden nicht wissen, was sie wollen, dann werde ich in mir drin richtig rasend. Mein nächstes Blutbild beim Arzt wäre erst im Dezember, aber ich will früher gehen. Es muss sich etwas ändern.»
Die Ärzte konnten Trish beruhigen. Trish befördere sich mit den Hormonblockern selbst in die Wechseljahre. Deshalb die Temperatur- und Stimmungsschwankungen. Und Trish nehme das Testosteron nicht immer gut auf, besonders, wenn Trish es mit Sport wieder rausschwitze. «Wir müssen weiter nach der richtigen Lösung suchen», sagt Trish.
«Und die Zweifel?», frage ich.
«Sie bleiben», antwortet Trish. «Je mehr Veränderungen ich spüre, umso öfter denke ich: Bin das wirklich ich? Oder lasse ich mich wieder in etwas reindrücken?» Was helfe, seien diese banalen Alltagssituationen. Etwa das Ausfüllen einer Onlinebestellung. Trish klickt «divers», «andere» oder «neutral» an. Ist glücklich. Erleichtert. Bei sich. Situationen, die Trish nicht zu einer Entscheidung zwingen. «Auch wenn es nur ein Feld ist, das ich ankreuzen kann – es gilt für mich.»
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