Kein «nicht binär» im PassBundesrat erteilt drittem Geschlecht eine Abfuhr – und erntet Entsetzen
Nach seiner letzten Sitzung mit Ueli Maurer teilte der Bundesrat mit, dass er kein amtliches drittes Geschlecht einführen will. Die Reaktionen sind deutlich: «Ärgernis» und «Ohrfeige gegen Nichtbinäre».
Was er von einem dritten Geschlecht hält, hatte Finanzminister Ueli Maurer (SVP) in seiner Abschiedserklärung klargemacht: Es sei ihm «gleich, ob eine Frau oder ein Mann» seine Nachfolge antrete, sagte er, «solange es kein ‹es› ist, geht es ja noch».
Am Mittwoch nahm Maurer das letzte Mal an einer Sitzung des Bundesrats teil. Die Regierung verabschiedete dabei einen Bericht zur «Einführung eines dritten Geschlechts». Sie entschied auf Antrag von Noch-Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) ganz im Sinn von Maurers Abschiedsvotum.
Der Bundesrat glaubt, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein amtliches drittes Geschlecht seien nicht gegeben. Neben «weiblich» und «männlich» soll es also kein «divers» oder «nicht binär» im Pass, anderen amtlichen Dokumenten und in den Bevölkerungsregistern geben.
«Binäres Geschlechtermodell stark verankert»
Der Bundesrat will auch nicht, dass die Geschlechtsrubrik einfach offengelassen werden kann. Vor einem neuen Geschlechtermodell brauche es zuerst einen «gesellschaftlichen Diskurs», schreibt er. Denn das binäre Geschlechtermodell sei in der Schweiz «nach wie vor stark verankert».
In der Begründung heisst es weiter, eine Änderung hätte weitreichende Konsequenzen. So müsste die Bundesverfassung angepasst werden – etwa im Bereich der Militär- und Ersatzdienstpflicht, weil diese keine Regelung für Personen enthält, die nicht als männlich oder weiblich im Personenregister eingetragen sind.
«Die Betroffenen sind nun mal da.»
Zudem müssten zahlreiche Gesetze auf Bundes- und Kantonsebene geändert werden. Das alles sei mit «erheblichem gesetzgeberischem Aufwand» verbunden. Der Bundesrat verweist zudem auf den technischen Aufwand bei der Anpassung von Registern und der Erfassung von Statistiken.
Schliesslich beruft sich der Bundesrat auf die Nationale Ethikkommission. Sie sei in einem Bericht 2020 zum gleichen Schluss gekommen. Die Kommission erklärte damals, die heutige Regelung sei zwar unbefriedigend, aber zuerst müssten die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Änderung geschaffen werden.
Oberster Zivilstandsbeamter ist für drittes Geschlecht
Als Fachexperte des Zivilstandsamts in der Stadt Zürich hat Roland Peterhans amtlich mit Personen zu tun, auf die weder «weiblich» noch «männlich» zutrifft. Peterhans hat sich schon mehrfach öffentlich für die Einführung eines dritten Geschlechts ausgesprochen. «Daran ändert auch der Bericht des Bundesrats nichts», sagt Peterhans.
«Die Betroffenen sind nun mal da, und wir müssen etwas tun, um ihrer Situation gerecht zu werden.» Der Experte, der auch den Schweizerischen Verband für Zivilstandswesen präsidiert, erinnert auch an Eltern von Kindern, die nicht mit eindeutigem Geschlecht geboren werden. «Diese müssen wir heute dazu zwingen, für ihre Babys ein Geschlecht festzulegen – das muss sich ändern.»
Das Argument, es brauche zuerst eine gesellschaftliche Debatte, hält Peterhans nicht für zutreffend. «Tatsache ist auch, dass das Problem nur eine kleine Minderheit betrifft, für die meisten ist das gar kein Thema.» Auf dieser Grundlage eine breite Diskussion zu erwarten, sei «schwierig».
«Das Argument der notwendigen gesellschaftlichen Debatte ist vorgeschoben.»
Entsetzt reagiert die Interessenvertretung der Betroffenen auf den Bundesratsentscheid. «Das ist eine Ohrfeige gegen nicht binäre Menschen», sagt der Jurist Alecs Recher vom Transgender-Netzwerk Schweiz.
Recher erinnert daran, dass sich die Ethikkommission trotz Bedenken letztlich deutlich für die rechtliche Anerkennung nicht binärer Menschen ausgesprochen habe.
Zudem verweist Recher auf eine Untersuchung des Forschungsinstituts Sotomo vom vergangenen Jahr. Danach sind 53 Prozent der Bevölkerung dafür, dass es in amtlichen Dokumenten einen zusätzlichen Eintrag für nicht binäre Menschen gibt. «Das Argument der notwendigen gesellschaftlichen Debatte ist vorgeschoben», sagt Recher.
Sigmond Richli, Co-Präsident des Transgender-Netzwerks, sagt, die rechtliche Anerkennung gehöre zu den Grund- und Menschenrechten der nicht binären Menschen: «Das ist die verfassungsrechtliche Aufgabe der Politik, unabhängig von der Zahl Betroffener und von persönlichen Meinungen von Bundesratsmitgliedern.»
«Der Bundesrat hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt und verweigert sich einer Diskussion über das Thema.»
Der Bundesratsbericht geht auf ein Postulat der grünen Nationalrätin Sibel Arslan zurück. Sie ist über das Resultat bestürzt: «Der Bundesrat hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt und verweigert sich einer Diskussion über das Thema.»
Arslan fragt sich, warum die Regierung dem Volk nicht zutraue, den gesellschaftlichen Dialog über Geschlechtermodelle zu führen. «Und das, obwohl Deutschland und Österreich zeigen, dass das möglich ist.» Die beiden Nachbarländer haben ihre Gesetze schon vor Jahren geändert und lassen ein drittes Geschlecht zu.
Stimmen aus der Verwaltung hatten in den vergangenen Wochen vermuten lassen, dass der Bericht ursprünglich erst im kommenden Frühling hätte verabschiedet werden sollen. Zuständig wäre dann die neue SP-Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider gewesen.
Dass der Bundesrat den Bericht nun an seiner letzten Sitzung in alter Zusammensetzung verabschiedete, kam überraschend. Federführend war die bisherige Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP).
Sibel Arslan vermutet deshalb Taktik hinter dem Entscheid. Sie will das dritte Geschlecht an der ersten Sitzung der Rechtskommission im neuen Jahr nochmals thematisieren. «Der Bericht des Bundesrats ist ein Ärgernis. Die Haltung, die dahintersteckt, müssen wir korrigieren.»
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