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Es bleiben Zweifel an der These vom Einzeltäter

Gestanden: Ein Polizist treibt im Jahr 2002 Neonazis, darunter Stephan E. (2.v.r), in ein Restaurant. Foto: Keystone
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Nachdem er zehn Tage lang eisern geschwiegen hatte, verlangte Stephan E. am Dienstag plötzlich ein Gespräch mit den Ermittlern. Dabei gestand er den Mord an Walter Lübcke, der vor knapp einem Monat mit einer tödlichen Schusswunde am Kopf auf der Terrasse seines Hauses in Nordhessen gefunden worden war. Dies bestätigte am Mittwoch Innenminister Horst Seehofer (CSU).

E. sagte der Polizei, er habe den 65-jährigen CDU-Politiker und damaligen Kasseler Regierungspräsidenten wegen dessen Flüchtlingspolitik getötet. Er habe selber 2015 an jener Bürgerversammlung teilgenommen, an der Lübcke nach anhaltenden rechtsradikalen Provokationen gesagt hatte, wer mit der von christlicher Nächstenliebe motivierten Aufnahme von Kriegsflüchtlingen nicht einverstanden sei, dem stehe es frei, Deutschland zu verlassen. Diese Äusserungen hatten nicht nur E., sondern die ganze rechte Szene empört und zu Morddrohungen gegen Lübcke geführt.

Zeugen wollen Komplizen gesehen haben

Der 45-jährige E., der als junger Erwachsener unter anderem wegen einer rassistischen Messerattacke und einem versuchten Bombenattentat auf ein Flüchtlingsheim verurteilt worden war, gab an, den Mord an Lübcke alleine geplant und durchgeführt zu haben. Die Polizei geht aber Hinweisen von Zeugen nach, die in der Tatnacht mögliche Komplizen gesehen haben wollen. Zudem arbeiten Ermittler bei Polizei und Verfassungsschutz Tag und Nacht daran abzuklären, in welches rechtsextremistische Netzwerk Stephan E. eingebunden war.

Sowohl der hessische Landes- wie der Bundesverfassungsschutz hatten angegeben, Stephan E. nach seiner letzten Verurteilung 2009 «nicht mehr intensiv auf dem Schirm» gehabt zu haben. Allem Anschein nach habe sich der Neonazi danach zurückgezogen, eine Familie gegründet und sei nicht mehr einschlägig aufgefallen. Medienrecherchen zeigen aber, dass der Geheimdienst möglicherweise nur nicht wusste, wie eng E.s Kontakte zu gewaltbereiten Neonazis immer noch waren.

Auf Youtube soll er gedroht haben, es werde bald Tote geben, wenn die Regierung von Angela Merkel nicht zurücktrete.

So soll E. vor drei Monaten möglicherweise an einem konspirativen Treffen führender bewaffneter Rechtsextremisten der Gruppe «Combat 18» im sächsischen Mücka teilgenommen haben. Auf Youtube soll er gedroht haben, es werde bald Tote geben, wenn die Regierung von Angela Merkel nicht zurücktrete.

Aus seiner Zeit bei der NPD und verschiedenen militanten Neonazi-Gruppen blieb E. in Kassels rechter Szene offenbar umfassend vernetzt. 2015 wurde er vom Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags auch zum möglichen Unterstützerumfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gerechnet, der zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen getötet hatte. 2016 soll E. 150 Euro an die AfD gespendet und dazu geschrieben haben: «Gott segne euch.»

Der Bundesverfassungsschutz hat nun alle Landesämter aufgefordert, aktuelle und frühere Informanten aus der rechtsextremen Szene nach Stephan E.s Aktivitäten seit 2009 zu befragen. Auch sollen alle einschlägigen Akten und Dossiers nach Querverweisen auf E. untersucht werden.

Vor allem für den hessischen Verfassungsschutz, der nach Ansicht vieler Beobachter bereits in den Ermittlungen zum NSU umfassend versagt hatte, könnten die Erkenntnisse unangenehm werden. Sollte sich bestätigen, dass E. als gewaltbereiter Neonazi im Geheimen aktiv und eine terroristische Gefahr blieb, von der die Behörden aber nichts wussten, dürfte es den Geheimdienstlern schwer fallen, dies zu rechtfertigen.

Seehofer will nicht reagieren

Neue Zahlen des Städtebunds belegen, dass vor allem Bürgermeister und Rathausmitarbeiter immer häufiger beschimpft, bedroht und auch tätlich angegangen werden als früher – häufig von Rechtsextremen und sogenannten Reichsbürgern. 35'000 Menschen, unter ihnen Politiker, Flüchtlingshelferinnen, Journalisten, Aktivistinnen oder Verwaltungsangestellte, stehen nach Erkenntnissen von Behörden auf «Listen», auf denen Rechtsextreme «politische Feinde» aufzählen. Einige wurden von ihren Verfassern unverhohlen «Todeslisten» genannt. Viele Bedrohte wissen offenbar gar nicht, dass sie auf solchen Listen verzeichnet sind.

Innenminister Seehofer wie Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamtes, lehnten es bisher jedoch ab, deswegen die Sicherheits- und Gefährdungslage anzupassen. Seehofer beteuerte zwar, der Staat müsse alles Menschenmögliche tun, «um jene zu schützen, die bedroht werden». Bei Lübcke kam die Vorsicht aber zu spät. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kommentierte den ersten politischen Mord eines Rechtsextremen an einem hohen Repräsentanten des Staates seit 1945 kürzlich folgendermassen: «Es muss uns beschämen und darf uns auch nicht ruhen lassen, dass wir Walter Lübcke nicht schützen konnten.»