Interview mit Bestsellerautor Jan Weiler «Erziehung? Irgendwie klappt das schon»
Jan Weiler («Das Pubertier») sieht dem Auszug seiner zwei Kinder mit gemischten Gefühlen entgegen: mit Wohlwollen und mit Sentimentalität. Dieser Prozess mache aus Eltern «Ältern».
Sie sind Vater zweier Kinder und beschreiben sich als Glucke. Woran erkennen Sie das?
Das sehe ich daran, dass ich nichts unversucht lasse, herauszubekommen, was die Kinder wo und warum, mit wem und wie lange machen. Ich bin so etwas wie ein Einpersonen-Überwachungsstaat.
Wirklich?
Nun gut, es hat allmählich etwas nachgelassen. Aber ich bin nach wie vor in Sorge – so sehr, dass ich die Dauersorge für das wichtigste Merkmal der Glucke halte.
In Gedanken sind Sie stets bei Ihren Kindern?
Ja, klar. Wenn sich mein Sohn, mit dem ich zusammenwohne, gar nicht meldet, und ich nicht weiss, wo er sich aufhält, macht mich das nervös. Inzwischen testet er das immer weiter aus und bleibt immer länger weg, ohne sich zu melden. Ich glaube, das macht er, damit ich mich besser abnabeln kann.
Bleiben Sie wach, wenn er nachts unterwegs ist?
Bis vor einem Jahr war das so. Ich werde langsam ein bisschen entspannter. Das muss ich ja auch, sonst gelingt die Abgrenzung und Ablösung nicht. In der Theorie bin ich da sehr viel weiter als in der Praxis. Diese hängt etwas hinterher, aber man muss den Kindern diesen unbeaufsichtigten Freiraum ja auch zugestehen.
Die Jugendlichen wollen uns ja nicht rausschmeissen, sie wollen sich selbst reinschmeissen ins Leben.
Eltern brauchen Mut zur Lücke?
Ja. Wenn der Kontakt zu ihnen knapper wird – manchmal höre ich von meiner Tochter drei Wochen lang nichts –, denke ich: Ich muss sofort anrufen. Das mache ich dann aber nicht, weil ich sie nicht stören will, sondern sage mir: Das ist okay, das wird schon.
Ist das Ihre Erziehungsmaxime?
Wenn Sie sich ununterbrochen Gedanken darüber machen, ob nicht was ganz Schlimmes passiert, sind Sie gar nicht lebensfähig. An irgendeinem Punkt muss man sagen: Irgendwie klappt das schon; das kriegen wir hin. Das muss man machen, sonst geht die Welt nicht weiter.
Was denken Ihre Kinder über Ihre anhaltende Sorge?
Die sehen das mit Humor und nehmen mich eher auf die Schippe. Ich mache ja nichts Schlimmes und werde nicht übergriffig. Zudem bin ich nicht mehr im Verbotsmodus und kann es aufgrund ihres Alters auch gar nicht mehr sein. Die Jugendlichen wollen uns ja nicht rausschmeissen, sie wollen sich selbst reinschmeissen ins Leben.
Ist es schmerzhaft oder befreiend, wenn der Nachwuchs flügge wird und ausziehen will?
Beides abwechselnd, das hängt von meiner Stimmung ab. Es ist ja ein toller Moment des Erwachsenwerdens, ein Moment mit starker Symbolkraft, wenn man aus dem Elternhaus auszieht. Als meine Tochter wegzog, begleitete ich das Vorhaben mit grossem Wohlwollen.
Klingt entspannt.
Moment mal, das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite macht mich so ein Auszug wahnsinnig sentimental und melancholisch. Denn damit ist normalerweise klar: Das war es jetzt! Nun kannst du das Zimmer untervermieten, neu streichen oder zu einem Yoga-Raum umfunktionieren.
Was bedeutet das für Sie selbst?
Auch für mich beginnt eine neue Lebensphase: Mein Vertrag ist nun abgelaufen, und ich muss mir eine neue Anschlussverwendung im Leben suchen. Damit hadere ich manchmal.
Haben Sie sich neue Hobbys zugelegt?
Ich bin auf eine erschütternde Art und Weise völlig hobbylos. Manche Leute kaufen sich einen Hund oder fangen mit Bogenschiessen an. Das kann ich alles gut verstehen, ist aber nicht das Richtige für mich. Ich muss jetzt einfach gucken, wie ich im Leben selbst zu etwas Neuem komme – und dennoch im Stand-by-Modus bleibe für den Fall, dass mich meine Kinder doch noch brauchen.
Wann ist Ihrer Meinung nach Erziehung abgeschlossen?
Mit 12 Jahren. Danach geht es nicht mehr um Erziehung, sondern um die Einhaltung der Hausordnung. Das sind zwei verschiedene Dinge. Für die Vermittlung von Werten jedenfalls ist es dann zu spät. Kennen die Jugendlichen diese dann noch nicht, gibt es da nichts mehr zu holen.
Es gibt Eltern, die beruflich auf einmal kürzer treten wollen, weil sie sich um ihren 17-jährigen Nachwuchs kümmern wollen.
«Was einmal versaut ist, kann man auch mit viel Prügel nicht mehr hinbiegen», hat Gerhard Polt einmal gesagt. Dem kann ich nur zustimmen. Wenn in einem Elternhaus gebrüllt und mit Sachen geworfen wird, dann werden die Kinder dieses Benehmen in ihren Verhaltenskompass übernehmen. Pflegen die Eltern hingegen einen einigermassen liebevollen Umgang miteinander, werden sich die Kinder in Beziehungen ähnlich verhalten.
Sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen Ihrer Erziehung?
Im Grossen und Ganzen ja. Da man selbst keinen Abstand hat, wird von aussen gespiegelt, ob man erfolgreich war oder nicht. Ein Kinderpsychologe sagte mir einmal, dass es normal und typisch sei, dass man für das Verhalten seiner Kinder gelobt werde von irgendwelchen Nachbarn oder Freunden oder Verwandten. Wie toll die sich benehmen würden und wie kooperativ die seien und so weiter. Und zu Hause benehmen sie sich total anders! Nicht normal wäre es, so der Psychologe, wenn die Kinder sich bei fremden Leuten auch so aufführen würden wie zu Hause. Dann hätten sie wirklich ein Abgrenzungsproblem.
In Ihrem Buch «Die Ältern» schreiben Sie, dass Kinder und Jugendliche heute «höllisch pragmatisch» seien. Was meinen Sie damit?
Mit Pragmatismus verbinde ich durchaus Positives. Die Kinder kennen sich heute in der Welt viel besser aus, als wir das taten: Bolivien ist für sie genauso weit entfernt wie Berlin. Unsere Welt ging ja nicht viel weiter als zehn Kilometer über unseren Heimatort hinaus.
Was hat zu diesem Wandel geführt?
Die Digitalisierung. Sie hat einerseits zu einem Wissenssprung geführt, andererseits die Schwierigkeit mit sich gebracht, Prioritäten zu setzen: Was ist wichtig, was nicht? Die Jugendlichen werden so vollgeballert mit allem möglichen medialen Kram, dass sie es viel schwerer haben zu entscheiden, worauf es wirklich ankommt. In meiner Jugend gab es vielleicht zwei Zeitungen und drei Fernsehprogramme. Wir konnten uns relativ einfach orientieren in einer Welt, in der es um zwei Sachen ging: Ost/West und sauren Regen.
Seitdem sind einige Dinge hinzugekommen.
In meiner Jugend gab es, um ein anderes Beispiel zu nennen, drei oder vier Turnschuhmarken. Heute gibt es ungefähr 300 Sneaker-Marken, die alle anders codiert sind: eine unterschiedliche Bedeutung haben und etwas Verschiedenes sagen. Die Jugendlichen müssen also ständig Entscheidungen treffen.
Eigentlich eine totale Überforderung.
Ja – und dennoch sind die jungen Leute sehr geschickt darin, sich auf neue Dinge einzustellen. Für sie ist die ganze Welt eine Art riesige Benutzeroberfläche, auf der sie das Navigieren etwa mit öffentlichen Verkehrsmitteln leichthändig beherrschen. Es macht einem ja fast Angst, wie schnell sie sind.
Können Sie da mithalten?
Ich spüre den Fortschritt des Alters, weil ich einiges nicht mehr mache oder mich nicht in besonderem Masse darum kümmere. Eine junge Schriftstellerin, Mitte 20, sagte mir einmal, dass man so richtig unabhängig erst ab 100’000 Instagram-Followern werde. Ich entgegnete: Richtig unabhängig ist man dann, wenn man keinen einzigen Follower hat. Für mich besteht Unabhängigkeit gerade darin, dies gar nicht zu brauchen.
Ich muss ja nicht überall dabei sein und alles ausprobieren.
Leiden Sie nicht darunter?
Nein, das interessiert mich einfach zu wenig. Ich muss ja nicht überall dabei sein und alles ausprobieren. Abgesehen davon, dass ich das meiste davon langweilig finde. Ich falle nicht etwa aus einem System raus, sondern ich gehe da erst gar nicht hinein.
Sollten Sie, um jung zu bleiben, da nicht mitmachen?
Nö, warum auch? Man kann doch dazu stehen, dass Dinge einen nicht mehr interessieren. Dafür ist man offen für anderes und kann sich über anderes unterhalten, zum Beispiel darüber, dass der Konsum von Alkohol wieder voll da ist und das Kiffen nachgelassen hat. Dabei muss ich mich übrigens immer etwas zügeln: Meine 35 Jahre alten Saufgeschichten interessieren meine Kinder null, sie finden sie eher unangenehm.
«Man ist 49, fühlt sich wie 29 und wird behandelt wie 79», schreiben Sie im Buch. Wie gehen Sie damit um?
Mit Gelassenheit. Man kann es ja nicht ändern und wundert sich bloss etwas, wenn man selber ein anderes Lebensgefühl hat. Aber da muss man cool bleiben.
Sind Sie eigentlich durchs Vatersein konservativer geworden?
Nicht konservativer, aber lärmempfindlicher. Das ist nicht dasselbe. Wenn wir im Auto unterwegs sind, stecken meine Kinder stets die Handys an und lassen laut Musik laufen. Sage ich nach einer halben Stunde, dass dieser ganze Kram zwar zauberhaft sei, ich aber gern mal gar nichts hören wolle, finden die das konservativ. Konservativ wäre es doch, wenn ich sagen würde, die Musik ist schrecklich – nein, sie ist einfach zu laut.
Mit dem Älterwerden mischen sich Grauwerte nicht nur in die Haare, sondern auch in die Ansichten, beobachten Sie. Das klingt aber schon etwas konservativ.
Ich meine damit, dass man es mit zunehmendem Alter gern ein bisschen einfacher hat, nicht mehr so wahnsinnig differenziert. Man hat in seinem Leben schon so viele Meinungen gehört und Haltungen und Einsichten und Ansichten. Das alles kennt man mittlerweile, und auf ein paar Kolorierungen kann man aus Wiederholungsgründen ruhig verzichten.
Dann lieber Grauwerte?
Ja, Grau ist die Farbe mit den meisten Kontrasten. Auf einem Farbskala-Fächer ist Grau jene Farbe mit den meisten unterschiedlichen Kärtchen.
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