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Strassenblockade in Zürich
Erstmals bestätigt das Obergericht den Freispruch von Klimaaktivisten

«Verhaftet, weil ich Angst habe», steht übersetzt auf dem Schild der Studentin, die sich am 7. Oktober 2021 auf die Bahnhofstrasse gesetzt hat. Die Rentnerin im Hintergrund sagt, sie habe sich spontan hingesetzt.
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Bisher hat die Staatsanwaltschaft vor Obergericht in den sogenannten Klimafällen stets gewonnen. Die höchste kantonale Instanz hat mehrere Freisprüche des Bezirksgerichts Zürich umgestossen. Nun ging der Staatsanwalt am Freitag in zwei Fällen aber erstmals als Verlierer aus dem Saal des Obergerichts.

Kurze Rückblende: Im vergangenen September fällte Roger Harris einen überraschenden Freispruch. Der Bezirksrichter der Partei Die Mitte weigerte sich, eine Frau, die im Oktober 2021 an einer Strassenblockade auf der Rudolf-Brun-Brücke beteiligt war, wegen Nötigung zu verurteilen. Die 46-jährige Übersetzerin war dem Aufruf der Klimaschutzorganisation Extinction Rebellion gefolgt, die angekündigt hatte, die Stadt Zürich an mehreren Tagen lahmzulegen. Er sei nicht mehr bereit, friedliche Demonstranten schuldig zu sprechen und solche staatlichen Straf­aktionen zu unterstützen, zitierte das Onlinemagazin «Republik» den Richter bei seiner mündlichen Urteilsbegründung.

Die Staatsanwaltschaft war empört. Sie erwirkte, dass Harris bei Klimademonstrationsfällen in den Ausstand treten musste, weil der Anschein einer Befangenheit des Richters bestehe. Doch auch andere Zürcher Einzelrichter wie Manuel Hauser (AL) oder Thomas M. Meyer (SVP) sprachen einzelne Klimademonstranten frei. Die Staatsanwaltschaft zog alle Freisprüche weiter und hatte bisher in allen Fällen Erfolg: Das Obergericht kippte die Urteile jeweils.

Verkehr nur wenige Minuten blockiert

Bis zum Freitag. Da standen zwei Frauen vor dem Obergericht, die in zwei unterschiedlichen Verfahren von der Bezirksrichterin Susanne Vogel (SP) vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen worden waren. Die heute 25-jährige Studentin und die 67-jährige Rentnerin hatten am vierten Tag der Aktionswoche von Extinction Rebellion im Oktober 2021 an einer Strassenblockade teilgenommen. Die Studentin setzte sich mit zwei anderen Aktivistinnen gegen 13.15 Uhr an der Ecke Bahnhof-/Uraniastrasse auf den Fussgängerstreifen. Es war die mit Abstand kleinste Aktion der Klimaschützerinnen in dieser Woche, bei anderen Blockaden beteiligten sich mehrere Hundert Menschen. Die Rentnerin sagte, sie habe sich spontan hinzugesetzt. Die Frauen sassen bloss wenige Minuten auf der Strasse, die Polizei war auf die Aktion vorbereitet und verhaftete die Aktivistinnen sogleich. Die Staatsanwaltschaft forderte Geldstrafen von 15 Tagessätzen für die Frauen wegen Nötigung.

Bezirksrichterin Vogel konnte keine Nötigung erkennen. Die Sitzaktion habe nur zwischen drei und maximal fünf Minuten gedauert. Die Staatsanwaltschaft habe den Anklagesachverhalt ungenügend belegt. So widersprechen sich etwa Angaben zur Dauer und zum genauen Zeitpunkt der Aktion in den Gerichtsakten. Ohnehin sei nicht von einer Nötigung auszugehen, begründete die Richterin ihre Freisprüche in den beiden Fällen. Wenn Autos in der Zürcher Innenstadt während höchstens fünf Minuten an der Weiterfahrt gehindert würden, sei darin «keine übermässige Zwangswirkung (…) zu erkennen», heisst es in den Urteilen. Solche Wartezeiten seien «normal und alltäglich».

Vor Obergericht argumentierte der Staatsanwalt hingegen, die Frauen hätten «Dutzende Fahrzeuge aufgehalten» und «unzählige Personen in ihrer Handlungsfreiheit beschnitten». Er verlangte einen Schuldspruch wegen Nötigung oder zumindest versuchter Nötigung, weil die Frauen die klare Absicht gehabt hätten, den Verkehr lahmzulegen. 

Richter zeigt Verständnis für Klimaaktivistinnen

Dieser Argumentation folgte der vorsitzende Oberrichter Christoph Spiess (Schweizer Demokraten) in seiner Urteilsbegründung am Freitag nicht. Nötigung liege nur dann vor, wenn die fragliche Handlung ähnlich schwerwiegend sei wie die Anwendung von Gewalt oder die Androhung ernster Nachteile. Die beiden Frauen hätten keine schwerwiegende Störung des Verkehrs verursacht, sagte der Oberrichter. Er stellte nicht in Abrede, dass das Mittel, welches die Frauen gewählt hätten, zwar rechtswidrig sei, der Zweck sei aber legitim gewesen: «Sie haben auf ein bestehendes politisches Problem (den Klimawandel) aufmerksam gemacht», sagte Spiess.

Allerdings heisse das nicht, dass andere Klimaaktivisten nun darauf hoffen könnten, auch freigesprochen zu werden. Die Studentin und die Rentnerin hätten eine kleine und ganz kurze Störung im Verkehr verursacht. «Das unterscheidet sie klar von diversen anderen Fällen», sagte Spiess. «Wir beurteilen jeden Fall individuell.» 21 Verfahren sind laut Extinction Rebellion momentan noch hängig.

Rüge wegen zu langer Haft

Zum Schluss seiner Urteilsbegründung liess es sich der vorsitzende Oberrichter aber wegen einer anderen Sache nicht nehmen, ungewohnt deutlich zu werden. Wie andere Klimaaktivistinnen auch mussten die beiden Frauen nach ihrer Aktion mehrere Nächte in Haft verbringen. «Es ist unverhältnismässig, Leute zwei Tage lang einzusperren», sagte Spiess und fügte an: «Wenn ich einen Unfug mache, muss ich für eine kurze Befragung auf den Posten und kann dann wieder gehen.» So aber entstehe der Eindruck, mit der Haft habe man einen Abschreckungseffekt erzielen wollen.

Das Obergericht sprach die beiden Frauen vollumfänglich frei. Für die unrechtmässige Haft werden sie mit 600 respektive 400 Franken entschädigt. Die Verfahrenskosten sowie die Kosten für die amtliche Verteidigung von insgesamt über 16’000 Franken muss der Staat bezahlen. Die Staatsanwaltschaft hat noch die Möglichkeit, den Entscheid ans Bundesgericht weiterzuziehen.