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Nachbarschaftspolizei in der Türkei
Erdogan träumt von einer Sittenpolizei

Eine Art Parallelpolizei: Gab es 2016 nur etwa 4000 Bekcis, sind es heute 21'000.
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Mit dem Ausbau einer «Nachbarschaftspolizei» scheint der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine Art Parallelpolizei aufbauen zu wollen. Diese Woche schon soll der Ausbau der «Bekci» genannten Truppe im Parlament beschlossen werden. Die «Wächter» als eine Art Laienpolizisten gibt es zwar schon seit 2016. Sie haben bisher aber begrenzte Befugnisse und eine geringe Mannschaftsstärke. Beides soll ausgebaut werden. Den Angaben des Innenministeriums zufolge hat die bewaffnete Truppe dann in Teilen polizeiähnliche Befugnisse.

Die «Hilfskräfte der Polizei», wie sie offiziell heissen, sollen nach Angaben des Innenministeriums uniformiert und bewaffnet sein, sie dürfen zur direkten Verhinderung von Straftaten Gewalt anwenden. Die Bekcis, die der Polizei «zuarbeiten» sollen, werden in Wohnvierteln, Parks und Einkaufszentren Ausweiskontrollen durchführen, Personen festhalten und «bedrohte oder gefährdete Frauen und Kinder» zu deren Sicherheit auf Polizeistationen bringen dürfen. Sie sollen jedoch keine Ermittlungen oder Verhöre durchführen und Tatorte sichern dürfen.

Einsatz nach politischem Kalkül?

Dem Einsatz vorausgehen soll eine psychologische Eignungsprüfung und eine Grundausbildung. Voraussetzung sind Abitur und Militärdienst. Gab es 2016 nur etwa 4000 Bekcis, sind es heute 21'000. Die Polizeidichte in der Türkei ist höher als etwa in den westeuropäischen Staaten, wo ein Polizist auf rund 300 Bürger kommt. In der Türkei ist es einer pro 180 Einwohner.

Die Opposition vermutet, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den bestehenden Institutionen Polizei und Gendarmerie seit dem Putschversuch von 2016 nicht vertraut und sich an ihnen vorbei eine loyale polizeiähnliche Truppe aufbauen will, die er nach politischem Kalkül einsetzen kann. Manche oppositionelle Medien warnen vor einer «Sittenpolizei» wie im Iran. Der unabhängige Oppositionsabgeordnete Cihangir Islam sprach vom Aufbau eines «Sicherheitsstaats»: «Die Menschen werden überall behelligt werden, indem ihre Ausweise verlangt werden. Das Land wird mit Kontrollpunkten übersät werden.»

Parlamentarier festgenommen

Das innenpolitische Klima hat sich in den vergangenen Tagen spürbar verschärft. Die Opposition glaubt, dass der Staatspräsident mit dem Gedanken von Neuwahlen spielt und die Opposition massiv schwächen will. Dafür spricht die Festnahme von drei Parlamentariern vor wenigen Tagen. Zuvor war ihre parlamentarische Immunität vom Parlamentspräsidenten Mustafa Sentop überraschend und ohne Abstimmung im Plenum aufgehoben worden.

Leyla Güven und Musa Farisogullari von der prokurdischen HDP und Enis Berberoglu von der sozialdemokratisch orientierten CHP waren in Gerichtsprozessen zwar rechtskräftig verurteilt worden, hatten aber vor Verfahrensende ihre Mandate im Parlament in Ankara angetreten. Umso unerwarteter kam der Entzug der Mandate. Sentop bezeichnete die Kritik an dem Vorgehen als «juristisch komplett inkompetent», die Urteile gegen die Politiker seien rechtskräftig. Die zwei HDP-Abgeordneten waren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden; die Justiz erhebt den Vorwurf der Nähe zur als Terrororganisation eingestuften PKK immer wieder gegen HDP-Mitglieder.

Videomaterial zugespielt

Der CHP-Vertreter Berberoglu wurde wegen «Spionage» abgeurteilt. Er hatte der Zeitung «Cumhuriyet» Videomaterial über eine Geheimdienstaktion zugespielt, bei der 2014 Waffen für Milizen mit Lastwagen nach Syrien geschafft worden sein sollen. Während die HDP-Vertreter ins Gefängnis kamen, wurde der CHP-Politiker wegen der Corona-Gefahr in den Haftanstalten fürs Erste unter Hausarrest gestellt.

Die Opposition vermutet hinter den Inhaftierungen der Parlamentarier ebenso wie hinter dem Ausbau der Bekci-Hilfspolizei eine Offensive Erdogans gegen die Opposition. Er sehe, dass die Zustimmung für die Regierungskoalition aus der islamisch-konservativen AKP und der rechtsnationalistischen MHP sinke und sich die Wirtschaftslage durch die Corona-Krise weiter verschlechtern werde. Während CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu davor warnte, sich provozieren zu lassen, sprach die HDP von einem «Putsch gegen die parlamentarische Demokratie». Sie verwies darauf, dass den jüngsten Festnahmen bereits Amtsenthebungen – und teilweise Festnahmen – mehrerer HDP-Bürgermeister vorausgegangen seien.