Türkei gibt Khashoggi-Fall abErdogan sucht Hilfe bei einem Feind
Der türkische Präsident reist nach Saudiarabien und gibt sich versöhnlich. Dies zeigt, wie sehr er unter Druck steht. Das sind die Gründe.
Auch wenn die unerwartete Kehrtwende sein Markenzeichen ist: Die neue türkische Politik gegenüber Saudiarabien zeugt selbst für die Verhältnisse eines Recep Tayyip Erdogan von unverfrorenem Pragmatismus. Hatte der türkische Staatschef den in Saudiarabien allmächtigen Thronfolger Muhammad bin Salman bisher quasi offiziell für den Mord an dem saudischen Regimekritiker Jamal Khashoggi verantwortlich gehalten und bei jeder Gelegenheit die politische Konfrontation mit dem Saudi gesucht, wird Erdogan den arabischen Machthaber nun bei einem Staatsbesuch um Hilfe für die angeschlagene türkische Wirtschaft bitten.
Das Gegengeschäft ist bereits vollzogen: Der aufsehenerregende Mordfall an dem Regimekritiker Khashoggi wurde von der türkischen Justiz kurzerhand an die saudische Staatsanwaltschaft weitergereicht.
Khashoggi war im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul auf grausame Weise beseitigt worden. Der Journalist wurde bei einem Konsulatsbesuch von einem angereisten Hit-Team ermordet und offenbar zersägt, bevor die Leichenteile an einen unbekannten Ort geschafft oder im Konsulatsgarten verbrannt wurden: Khashoggi hatte vorgesprochen, um Unterlagen für die geplante Hochzeit mit einer türkischen Staatsbürgerin abzuholen.
Die Vorstellung, der Fall Khashoggi könnte gesühnt werden, dürfte endgültig Geschichte geworden sein.
International war Prinz Salman nicht nur vom US-Geheimdienst für den Mord verantwortlich gemacht worden: Der Thronfolger gilt als unhinterfragter Herrscher des Wüstenstaats. Sein greiser, gesundheitlich angeschlagener Vater König Salman, der Erdogan am Donnerstag offiziell empfangen hat, tritt kaum in Erscheinung. Der Türke hatte von einem «barbarischen Mord» gesprochen und eine lückenlose Aufklärung durch die türkische Justiz angekündigt. Laut Erdogan spielte dabei «die engste Umgebung des Kronprinzen die wichtigste Rolle» in dem Mordfall. (Lesen Sie zum Thema auch die Artikel «Verdächtiger in Paris festgenommen» sowie «Khashoggi-Verlobte kritisiert Biden».)
26 Angeklagte, darunter ein Ex-Berater des Prinzen und der ehemalige Vize-Geheimdienstchef, wurden in Abwesenheit angeklagt. Aber im April legte die Türkei den Fall überraschend nieder und trat ihn an die angeblichen Auftraggeber des Mords ab: Ein Gericht überstellte das Verfahren an Saudiarabien. Damit dürfte die Vorstellung, der Fall Khashoggi könnte gesühnt werden, endgültig Geschichte geworden sein. Doch für Erdogan geht es um mehr als das Schicksal eines saudischen Oppositionellen.
Erdogans hochfliegende Pläne einer Führungsrolle im Nahen Osten, die sich auf die Unterstützung islamistischer Oppositionsgruppen wie der Muslimbrüder und der Hamas stützt, sind zumindest fürs Erste Makulatur geworden. Stattdessen kämpft der Präsident rund ein Jahr vor anstehenden Neuwahlen mit dem Niedergang der Wirtschaft, einer Inflation von rund 60 Prozent, dem Verfall der Landeswährung Lira und dem abbröckelnden Rückhalt in der Wahlbevölkerung.
Bereits Aussöhnung mit den Emiraten
Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen muss der Dauerprovokateur die Aussöhnung mit seinen Erzfeinden suchen. Und das sind die erzkonservativen arabischen Machthaber am Golf. Diese betrachten die islamistischen Oppositionsgruppen als gefährlichste Gegner. Vor allen anderen sehen sie in den im gesamten Nahen Osten aktiven und von Erdogan lange gehätschelten Muslimbrüdern aus Ägypten den Feind: Die Organisation sei ein «Brutkasten für Terroristen», so Prinz Salman.
Schon bei der pragmatischen Aussöhnung mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) vor einigen Monaten hatte Erdogan am Ende bekommen, was er wollte. Durch einen Währungsswap in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar kann die immer wieder ins Trudeln geratende türkische Lira bei Bedarf von Ankaras Zentralbank abgefangen werden. Eine ähnliche Stütze vonseiten der Saudis, versteckt in einem Paket wirtschaftlicher Zusammenarbeit und saudischer Investitionen, könnte Erdogans fragwürdige Politik möglichst niedriger Leitzinsen und einer quasi forcierten Inflation am Leben erhalten.
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