Unihockey-Nationalspieler Noël SeilerEr ist viel mehr als nur ein Maskottchen
Lange muss er sich anhören, er sei zu lieb. Dann wechselt Noël Seiler zu GC – und alles ändert sich. Heute tragen Junioren das Nationaltrikot mit seinem Namen.
In diesem Punkt lässt GC-Cheftrainer Luan Misini nicht mit sich reden. Noël Seilers Hallenschuhe sind zu gross, mindestens drei Nummern. Unzählige Male hat er ihm gesagt, «so kannst du doch nicht rumlaufen, mit so eng geschnürten Schuhbändeln». Doch sein sonst so kooperativer Stürmer bleibt hart: «Die Schuhe passen perfekt. Das wirkt nur so, weil ich einen schmalen Fuss habe.»
Der humorvolle Disput ist ein gutes Bild: Beim 21-jährigen Aargauer, der es nie in eine nationale Juniorenauswahl schaffte, ist alles plötzlich so schnell gegangen, dass ihm seine eigenen Fussstapfen zuweilen grösser vorkommen, als seine Füsse tatsächlich sind. 2022 wird er mit GC zuerst Cupsieger, dann Schweizer Meister und schliesslich vor der Heim-WM als einer von nur zwei Neulingen in den eingespielten Zirkel des Nationalteams berufen. Noël Seiler wirbelt, trifft, fällt auf mit seinem explosiven Spiel. «Er kann eine Mannschaft mit seiner positiven Energie mitreissen», bemerkt der ehemalige Nationalcoach David Jansson. Seiler sagt: «Was mir da passierte, ist irgendwie surreal.»
Seiler-Shirts als Verkaufsschlager
Seine Lettern sind im Kader und auf den Fan-Shirts der Schweizer Nationalmannschaft inzwischen gesetzt. Im GC-Sortiment ist seine Nummer 40 unter den jungen Fans der Verkaufsschlager. «Weit über die Hälfte unserer Trikots gehen mit dem Aufdruck ‹Seiler› über den Tisch», sagt GC-Marketingchef Nicolas Edelmann. Woher kommt diese Popularität? Seiler ist die Frage sichtlich unangenehm. Er zuckt lächelnd mit den Schultern und fragt zurück: «Vielleicht weil ich aus dem Nichts gekommen bin?»
«Er gibt all jenen Hoffnung, die als Junioren nicht als grosse Talente gelten.»
Für Jansson, inzwischen für die sportliche Ausrichtung des Schweizer Männer-Unihockeys verantwortlich, ist Seiler ein gutes Beispiel. «Er hat es mit Beharrlichkeit und Geduld weit gebracht und gibt all jenen Hoffnung, die als Junioren nicht als grosse Talente gelten.» Hinzu kommt seine Art: bodenständig, freundlich, wissbegierig. «Er will kritisiert werden», sagt GC-Trainer Misini und erzählt, wie der Stürmer in jedem Training noch fünfzig Schüsse extra drauflegt. Ein Ronaldo abzüglich Allüren und Arroganz. Misini lacht, der Vergleich gefällt ihm.
Dass Seiler noch immer eine Schutzbrille trägt, obwohl diese im Unihockey nur für Junioren Pflicht ist, passt zu seiner vorbildlichen Einstellung. Spielerisch habe er die Vorsicht abgelegt, betont er. Heute sucht Seiler das Risiko, spielt aggressiv. «Stets wurde mir gesagt, ich sei zu lieb. Ich musste einsehen, dass ich damit auf dem Feld nicht durchkomme.»
Als Sportsoldat ist er einer der wenigen Vollprofis, die zurzeit in der Schweizer Unihockeylandschaft unterwegs sind. Bei GC hat Seiler noch einen Juniorenvertrag, Geld verdient er mit dem Sport kaum. «Ohne die Unterstützung meiner Eltern und meiner Gotte wäre das alles nicht möglich», gibt er offen zu.
Zusammen mit seinem 18-jährigen Bruder Elia – auch er spielt inzwischen erfolgreich im GC-Nachwuchs – wohnt er noch im Elternhaus in Schöftland. Vater André Seiler hat seine Buben zuerst bei Unihockey Mittelland und später im Nachwuchs in Köniz trainiert. Nächste Saison wird er Cheftrainer der NLA-Frauen von Bern Burgdorf. Keiner in der Familie sei so angefressen wie sein Vater, erzählt Noël Seiler schmunzelnd. «Er nimmt an unsere Spiele immer sein Blöckli mit. Um die Nachbesprechung kommen wir nicht herum.»
Unter dem Radar der Nationalcoachs
André Seiler hat seine Kinder nicht nur Taktik, sondern auch Tugenden gelehrt. Darunter Anstand, mit dem sein älterer Sohn auch ungewollt anstand. Als er als Junior unter dem Radar der Nationalcoachs flog, hat sich Seiler mehr als einmal gefragt, warum. Nachgefragt hat er nie. «Ich bin zu wenig für mich eingestanden», sagt er rückblickend. Der Wechsel zu GC änderte alles.
«Es war fast zu viel. Ich habe diese Spieler ja nur aus dem Fernsehen gekannt.»
Misini lässt ihn 2021 fürs Fanionteam auflaufen, und das nicht etwa in der vierten Linie, wie sich das der scheue U-21-Junior gewünscht hätte. Er stürmt auf Anhieb neben etablierten Nationalspielern wie Paolo Riedi und Christoph Meier, auf deren Unterstützung er stets zählen kann. «Trotzdem war es für mich fast zu viel. Ich habe diese Spieler ja nur aus dem Fernsehen gekannt», sagt Seiler und zittert anschaulich mit den Händen. So habe er seinen Stock gehalten.
Er macht Fehler, trotzdem hält Misini an ihm fest. Nicht alle hätten verstanden, dass so ein Junger plötzlich Powerplay spiele, sagt der Coach. Mittlerweile ist für alle offensichtlich, was Misini von Anfang an in Seiler sah: «Einen wendigen und robusten Spieler, der noch dazu geschickte Hände hat und damit alles, was ein moderner Unihockeyspieler braucht.»
Tore und Trauer an der Heim-WM
Dass sein Förderer im vergangenen Jahr noch als Assistent an der Bande der Nationalmannschaft stand, war bestimmt kein Nachteil für Seiler. Doch Jansson betont: «Wir hatten Noël nicht als Maskottchen dabei, sondern weil er schon jetzt gut genug ist.» Der Jüngste im Team gehört im November denn auch zu den Lichtblicken an der Heim-WM. Ihm gelingen zwei Tore und zwei Assists, und doch fügen sich am Ende auch seine Emotionen der kollektiven Enttäuschung über die verpasste Medaille. Was ihm bleibt, ist aber auch das elektrisierende Gruppenspiel gegen Finnland, als 11’000 Leute einen grandiosen Schweizer Sieg feiern – und die gewachsenen Ansprüche.
Nach der WM geht es für Seiler zurück von der ausverkauften Swiss-Life-Arena in die Hardauhalle. Hier ist der Publikumsaufmarsch ab und an mager genug, um das Rollen des Balles zu hören, und der giftgrüne Hallenboden so grell, dass Seilers Grosseltern sich seine Spiele im Livestream unmöglich anschauen können.
Die Rückkehr in den Alltag ist schwierig, der einstige Energiespieler fühlt sich ausgebrannt und macht sich gleichzeitig Druck. «Ich wollte bei GC unbedingt dasselbe leisten wie an der WM.» Seiler braucht eine halbe Saison, bis er wieder völlig befreit aufspielt – gerade rechtzeitig für den nächsten Grossanlass. Am Samstag trifft Titelverteidiger GC im Cupfinal in Bern auf Köniz. «Jetzt gehe ich wieder richtig mit», sagt Seiler. «Dieses Feuer will ich nie mehr verlieren.»
Seinen Vertrag mit den Stadtzürchern hat der Nationalspieler bereits um ein Jahr verlängert. Danach möchte er sich in den international stärksten Ligen von Schweden oder Finnland ausprobieren – und seine Fussstapfen noch einmal vergrössern.
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