Wahlen in GrossbritannienBritische Rechte fordern immer lauter ein neues Wahlrecht – und erhalten Zuspruch von links
Völlig verzerrt finden nicht nur die Rechtspopulisten das Wahlergebnis der vorigen Woche. Tatsächlich kaschiert die neue Stärke der Labour-Partei eine äusserst schwache Basis der Sieger.
Tiefes Ressentiment auf der Rechten kennzeichnet nicht nur die Stimmung in Frankreich zu Beginn dieser Woche. Auch Grossbritanniens Rechtspopulisten, deren Ziele nicht ganz so hoch gesteckt waren wie die des Rassemblement National, empören sich darüber, dass etwas «fundamental falsch» sei mit der britischen Demokratie.
Wäre ihr Stimmenanteil proportional in Unterhausmandate übertragen worden, müssten sie nämlich über mehr als 90 der 650 Sitze im House of Commons verfügen – und nicht nur über die kümmerlichen fünf Sitze, die ihnen zuteilgeworden sind.
Gemessen an den vier Millionen Stimmen, die sie erhielt, ist Nigel Farages Reform-Partei immerhin praktisch über Nacht zur drittstärksten Partei im Vereinigten Königreich, noch vor den Liberaldemokraten, geworden. «Das System» aber schränkt ihre Präsenz im Parlament und ihren politischen Einfluss drastisch ein.
Reform-Chef Farage findet Wahlrecht unakzeptabel
Schuld daran ist das eigentümliche britische Mehrheitswahlrecht, das keinen Proporz und keine Listenwahl kennt, sondern in jedem Wahlkreis ganz einfach den Kandidaten mit den meisten Stimmen zum Sieger erklärt. Mit dieser «First past the post»-Methode sollte, im alten Zweiparteiensystem der Insel, stets ein klarer Gewinner bestimmt werden. Koalitionsgerangel war nicht vorgesehen.
Nun aber, da sehr viel mehr Parteien das Interesse der Wähler wecken, sei dieses Wahlrecht endgültig überholt, meint Reform-Chef Farage. Es sei schliesslich vollkommen unakzeptabel, «dass ein Reform-Kandidat 800’000 Stimmen braucht, um ins Parlament zu kommen, ein Labour-Kandidat aber nur 30’000.»
Diesem Argument stimmen auch, am entgegengesetzten Ende des Spektrums, die britischen Grünen zu, die die Forderung nach einer Wahlrechtsreform unterstützen. Sie erhielten gerade mal vier Sitze bei der Wahl der Vorwoche. Ein Proporzsystem hätte ihnen 46 verschafft.
Wahrheit hinter Labour-Sieg ist kompliziert
Selbst die Liberaldemokraten werden sich an der Reform-Kampagne beteiligen. Sie kamen dank ihrer alten regionalen Hochburgen im Süden und Südwesten Englands auf eine angemessene Zahl von Sitzen, nämlich auf 72. Und sie hegen ebenso wenig Sympathien für Farage wie die Grünen. «Ich glaube an die Demokratie», erklärt es der Liberalen-Vorsitzende Ed Davey, «auch wenn dadurch Leute ins Parlament einziehen, mit denen wir nicht übereinstimmen.»
Dabei weiss Davey natürlich, dass bei einem von seiner Partei erzwungenen Referendum im Jahr 2011 zu dieser Frage mehr als zwei Drittel der Wähler noch am alten System festhalten wollten. Aber inzwischen, meinen die Fürsprecher konstitutionellen Wandels, habe sich vieles geändert. Immer mehr Britinnen und Briten hielten das System heute für ungerecht.
Tatsächlich zeigen die jetzt vorliegenden Analysen des Wahlergebnisses, dass sich die Realität hinter dem beispiellosen Wahltriumph Labours, der der Partei praktisch eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus bescherte, etwas komplizierter ist.
Labour und Tories kamen auf weniger Stimmen als je zuvor
Die beiden grossen Parteien, Labour und Tories, haben diesmal zusammen einen geringeren Stimmenanteil als je zuvor erzielt. Während die Konservativen dramatisch Stimmen verloren, gelang es Labour kaum, neue Wähler für sich zu gewinnen. Die Wahlbeteiligung war, mit 60 Prozent, die zweitniedrigste seit 1885 bei einer Unterhauswahl.
Die Wähler hätten «deutlich Nein gesagt» zu den Tories, aber der Enthusiasmus für Labour habe sich «sehr in Grenzen gehalten», formuliert es der prominenteste Meinungsforscher des Landes, Sir John Curtice. Labours enormer Sitzgewinn kam nur zustande, weil die Rechte sich derart spaltete bei dieser Wahl.
Starmer findet weit weniger Zuspruch als Johnson
Mit nicht viel mehr als einem Drittel der abgegebenen Stimmen habe Keir Starmer – bei rekordniedriger Wahlbeteiligung – insgesamt weniger Zustimmung in der Bevölkerung gefunden als noch der Linkssozialist Jeremy Corbyn, der 2019 vom supererfolgreichen Boris Johnson vernichtend geschlagen worden sei, meint Curtice. «Durch das am extremsten verzerrte Wahlresultat der britischen Geschichte» sei Keir Starmers Labour auf eine Stärke im neuen Unterhaus gekommen, die einen völlig falschen Eindruck erwecke «und die beschränkte Popularität der Partei kaschiert».
Dass die Fundamente der Labour-Regierung nicht sehr stark sind und bei zunehmender Frustration mit Starmer schnell brüchig werden könnten, ist auch schon eine Sorge in der Partei selbst. Die Partei der Rechtspopulisten wartet nun, mit oder ohne Mehrheitswahlrecht, auf ihre nächste Chance. «Eine Massenbewegung, die auf echten Wandel drängt», werde er jetzt aus der Reform-Partei machen, hat Nigel Farage bereits angekündigt. Reform sei schon heute «die wirkliche Opposition».
Im Grunde, räumte auch der vormalige Labour-Premier Tony Blair ein, sei Grossbritannien gar nicht nach links gerückt bei diesen Wahlen: «Obwohl das Land sich eine Regierung der linken Mitte gegeben hat, deutet die Verschiebung des politischen Schwerpunkts auf einen Rechtsruck hin.»
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