Engländer fliehen mit dem Virus nach Schottland
Verängstigte Städter aus dem Süden Grossbritanniens reisen in die schottischen Highlands, wo es bisher fast keine Corona-Fälle gibt. Dort sind sie nicht wirklich willkommen.
In den letzten Tagen fiel den Bewohnern der schottischen Highlands auf, dass sich auf ihren schmalen Strassen mehr und mehr Autos drängten – als wäre die Hochsommer-Saison schon im Gang. Familien aus südlichen Regionen steuerten ihre Geländewagen mit Kind und Kegel zu Ferienhäuschen, die sie irgendwo im dünn besiedelten hohen Norden besassen. Parkplätze und Camping-Gelände füllten sich mit Wohnmobilen.
Viele der kleinen Fähren, die sonst um diese Jahreszeit gemächlich zu den Inseln vor der schottischen Küste tuckern, verzeichneten mit einem Mal Autoschlangen in den winzigen Ausgangshäfen. Eine wachsende Flut in Panik geratener Coronavirus-»Flüchtlinge» hatte offenbar zu diesem Zeitpunkt die gleiche Idee. Das Wissen um die hohe Ansteckungsrate in London mochte viele zusätzlich zur langen Reise in den Norden motiviert haben. Aber auch aus anderen englischen Städten und aus den Ballungszentren Schottlands bewegte sich eine kontinuierliche Wagen-Flut in Richtung Inverness und auf die weiten Bergländer Schottlands zu.
«Leute, bleibt weg»
Seinen Zorn kaum zu zügeln wusste der Inverness-Abgeordnete Fergus Ewing: «Mich macht dieses skrupellose und unverantwortliche Verhalten von Leuten, die jetzt in die Highlands und Islands reisen, total wütend.» Die blinde Flucht gefährde nur Leben. Das müsse «sofort aufhören», wetterte Ewing: «Leute – bleibt weg von hier!»In der Tat hatten die abgeschiedenen Kommunen der Highlands noch am Sonntag lediglich acht bestätigte Coronavirus-Fälle und keinen einzigen Toten. Nun befürchten die Einheimischen, dass ihnen die Auswärtigen das Virus mitbringen.
Und nicht nur das. Lebensmittelläden und Tankstellen melden, dass die Angereisten überall die Regale abräumen und die Benzinsäulen leeren. Ausserdem, warnen örtliche Politiker, seien die wenigen Spitäler und weit verstreuten Ambulanzen der Highlands nicht in der Lage, mit einer Bevölkerungsexplosion fertig zu werden. «Es mag ja ein verständlicher menschlicher Instinkt sein, dass man glaubt, vor dem Coronavirus davon laufen zu können», meinte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. «Aber die Wahrheit ist – man kann es nicht.» Zu Wochenbeginn ordnete Sturgeon an, Wohnmobil-Plätze in den Highlands zu schliessen und die Nichtortsansässigen wieder nach Hause zu schicken.
Schottische Fährgesellschaften sollten ausserdem niemanden mehr zu den Inseln befördern, der dort nicht wohne oder keinen guten Grund habe zum Hinüber-Setzen, meinte Sturgeon. Hotels und Herbergen wies sie an, keine auswärtigen Gäste mehr aufzunehmen, sondern lieber, je nach Bedarf, der eigenen Belegschaft oder Ärzten, Pflegern und Rettungsteams aller Art Unterkunft anzubieten. Zwischen Inverness und Ullapool stösst man auf immer mehr gästefreie Hotels, abgeriegelte Wohnmobil-Parkplätze und Polizeipatrouillen. Die Western Isles, die Inseln vor der Westküste, hatten ein kollektives Online-Schild «closed» (geschlossen) ins Netz gehängt.
Das auf der schottischen Ostseite gelegene Feriengebiet Black Isle, auf seine traditionelle Gastfreundschaft stolz, zeigte sich untröstlich: «Es fällt uns schwer, Sie darum zu bitten, nicht zu kommen. Wenn diese Krise erst mal vorbei ist, empfangen wir Sie wieder mit offenen Armen. Ganz bestimmt!»
Auch viele Tagesausflugsziele in Schottland und anderswo auf den Britischen Inseln hatten unerwünschte Besucher. Zwei französische Touristen mussten von der Bergwacht in den Cuillin Hills geborgen werden, während man das Rettungsteam «für nützlichere Einsätze» hätte brauchen können. In Wales musste der Pfad zum Gipfel von Mount Snowdon geschlossen werden, weil Heerscharen zu geteilter Berg-Einsamkeit Zuflucht nahmen. Und weil Briten Küstenstriche, Parks und noch existierende Blumen- oder Gemüsemärkte übervölkerten, statt sich zuhause einzuigeln, sah sich die Regierung Johnson veranlasst, die Bewegungsfreiheit ihrer Landsleute einzuschränken.
Pech für ein paar Rentner
Noch am Sonntag hatte Johnson unschlüssig erklärt, er wolle es «sich überlegen», wieviel Verordnung vonnöten sei. Vorgeworfen wird Johnson, Wochen möglicher Vorbereitung auf die Krise in seinem Land «verschenkt» zu haben. Sein libertäres Denken, merkten auch Teile der konservativen Presse an, habe den Premier noch bis vor kurzem davon abgehalten, drastisch vorzugehen.
Die «Sunday Times» witterte hinter dieser laxen Anfangshaltung Johnsons und dem Konzept erwünschter «Herdenimmunität» den Chef-Strategen der Downing Street, Dominic Cummings. Bei einem «Kriegsrat» Ende Februar habe Cummings erklärt, vor allem müsse man die britische Wirtschaft retten – und wenn dabei «ein paar Rentner» draufgingen, sei das «halt Pech».
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