83-jährige RekordsiegerinDer Vater verbot ihr den Sport, doch sie lief am Engadiner allen davon
Rosmarie Kurz brillierte auf Langlaufski und auf dem Velo, als Sport für Frauen noch verpönt war. Sie trainierte sogar Männer. Heute ist sie ohne Groll: «Es war halt so.»
Die Wand ist viel zu klein für die vielen Preise und Auszeichnungen. Ein Teil ist deshalb in der Wohnwand hinter Glas ausgestellt. Und Rosmarie Kurz sagt: «Ich habe doch mit allem viel zu spät angefangen.» Mit allem meint sie: mit all ihren Sportarten.
Rosmarie Kurz wird im April 84 Jahre alt, mit ihrem Mann bewohnt sie eine Maisonettewohnung in Winterthur. Und darin verbirgt sich eine Sportkarriere, die ihren Anfang in den 1960er-Jahren nahm und in den frühen 1980er-Jahren im Giro d’Italia und in der Tour de France gipfelte. Rosmarie Kurz trieb also schon zu einer Zeit Sport, als sich dies gesellschaftlich noch nicht überall schickte. Als viele Frauen dies noch heimlich taten oder tun mussten.
Auch sie hat sich als Jugendliche gegen ihren Vater durchsetzen müssen. «Er war im Turnverein, das durfte ich auch, aber nicht mehr», sagt sie mit hellwachen Augen. «Velofahren lag nicht drin, und eine Leichtathletikabteilung gab es nicht», sagt sie. Aber Leichtathletik wäre sowieso nicht infrage gekommen. «Auch der Grossvater hat unter unserem Dach gelebt. Er war Schwinger und Turner und noch viel konservativer als der Vater.» Sie hadert nicht. Die Verhältnisse seien einfach so gewesen, «ich war ja nicht allein damit».
Ein Paar Ski vom Militär und keine Schuhe
Der Name von Rosmarie Kurz ist in den vergangenen Wochen da und dort aufgetaucht. Denn die drahtige, kleine Frau («ich bin nur noch einen Meter fünfzig, aber schreiben Sie sechzig, das war ich einmal») ist Rekordsiegerin des Engadin-Skimarathons. Sie hat ihn sechsmal in Folge gewonnen, einmal mehr noch als Albert Giger, der Dominator bei den Männern.
Von ihrem ersten Sieg 1972 zeugt das imposante Geweih eines Steinbocks an der Stubenwand, ein solches erhalten die Erstplatzierten heute noch. «Bei meinen nächsten Siegen gab es nur noch ein Metallplättli mit Rang und Jahr drauf. Erst als Albert Giger protestierte, gab es wieder ein Geweih», sagt sie und lacht.
Zur Langläuferin ist Rosmarie Kurz durch ihren Mann geworden. Vom Militär habe er einmal zwei Paar Langlaufski mit nach Hause gebracht, «und als in Winterthur Schnee lag, ist er ausgerückt – und ich sagte: Ich komme mit!». Mit welchen Schuhen sie auf die Ski gestanden ist, weiss sie nicht mehr. Es hat keine Rolle gespielt. Denn zur Verblüffung beider war sie schneller als er. «Und es machte mir Spass.»
Sie sei eine junge Frau gewesen, die sich gern «angestrengt» und Leistung erbracht habe, erzählt sie. «Ein wenig Trampolinspringen war nichts für mich.» Sie habe Drogistin gelernt, «aber noch lieber wäre ich Turnlehrerin geworden. Aber dafür hätte ich die Matura gebraucht.»
Noch bevor sie aber mit dem Langlaufen begann, war sie Mitte der 1960er-Jahre dem Tennisclub Rot-Weiss Winterthur beigetreten und hatte Interclub gespielt. «Meinem Vater beizubringen, dass ich an einem Wettkampf teilnehme, das war nicht einfach.» Zudem war Tennis zu dieser Zeit eine Sportart für Begütertere, doch den TC Rot-Weiss konnte auch sie sich leisten. «Schon da machte ich immer Waldläufe, das merkte man dann beim Tennis, ich hatte eine gute Ausdauer», sagt sie. Damit hat sie sich später auch ihre Langlaufleistung erklärt.
Ab 1971 zweimal täglich trainiert
Als 1969 der erste Engadiner organisiert wurde, war sie schon dabei. «Wir meldeten uns an – ich hatte aber keine Ahnung, wie weit 40 Kilometer sind», sagt sie und schmunzelt. Rosmarie Kurz hat tausend Episoden zu erzählen. Dass unter tausend Teilnehmenden doch 50 Frauen waren und diese zuerst starten durften. Wie sie auf ihren Mann warten wollte. Wie er nie zu ihr aufholte. Wie sich die Birkenski beim warmen Wetter mit Wasser vollsogen. Wie alles ein Chrampf gewesen sei – «und ich doch Vierte wurde. Vierte! Beim ersten Mal, zwar eine Stunde hinter der Siegerin, aber trotzdem.»
Rosmarie Kurz war angefixt.
Im Herbst 1971 zogen sie um ins Engadin, «wir wollten in den Schnee, wir wollten langlaufen». Von da an hat sie zweimal täglich trainiert. Und schon im März darauf ihren ersten Sieg beim Engadiner gefeiert. «Obwohl am Start Hunderte zwölf Minuten zu früh und vor mir losliefen. Ich merkte dann gar nicht, dass ich mit der Zeit alle Frauen überholt hatte.» Erst als in La Punt der Lautsprecher verkündete, dass «die erste Dame» da sei, sah sie ihre Chance.
Aus einem Kämmerchen holt Rosmarie Kurz Ordner und Alben hervor. Stolz zeigt sie, was sie fein säuberlich alles archivierte, Resultate, Ranglistenauszüge, Zeitungsartikel, Fotos – ein ganzer Lebensabschnitt zwischen grossen Buchdeckeln. Sie war auch zweimal Schweizer Meisterin im Langlaufen, «aber für internationale Wettkämpfe war ich viel zu alt, ich war da schon über 30». Rosmarie Kurz liest aus einem Zeitzeugnis vor, einem Interview mit ihr:
«Wieso fristet der Sport der Frauen ein solches Mauerblümchendasein?», war sie gefragt worden. Sie sagte: «Es ist ganz einfach: In den Trainingslagern des Skiverbandes wurden die Frauen noch nicht so gefördert.» Rosmarie Kurz schaut auf – ja, so sei das gewesen.
Die Pionierin ohne dicke Arme
Die Frage an sie ist heute: «Waren Sie eine Pionierin?» Sie zögert nicht. «Vielleicht schon, ja. Es gab Leute, die fanden, wenn ich den Engadiner laufen könne, dann könnten sie das auch. Für mich war das ein wenig der Sinn der Sache.» In späteren Jahren hat sie in der Vorwoche der Veranstaltung Langlaufkurse erteilt. «Es war lustig, als ich es das erste Mal machte. Die Läufer waren da, ich auch, und alle fragten, wer denn jetzt diesen Kurs leite. Ich sagte: ‹Ich›, und sie staunten. Wahrscheinlich hatten sie gemeint, es müsste eine mächtige Person mit dicken Oberarmen sein. Aber ich konnte auch gut stossen ohne dicke Arme.»
Und sie sei eine «Klettergeiss» gewesen, sagt sie, «nicht nur auf den Langlaufski, auch auf dem Rennrad». Rosmarie Kurz weiss nicht, wie viele Male sie in den Engadiner Sommern den Albula hinaufgefahren ist. «Am Morgen allein, am Abend noch mit meinem Mann.»
Als bei einer Gruppenausfahrt ein Begleiter meinte, so wie sie Rad fahre, müsste sie an Rennen teilnehmen, liess sie dieser Gedanke nicht mehr los. Zumal ihr auf den Ski je länger, desto mehr eine frühere Verletzung zu schaffen machte. «Mit 20 hatte ich mir das Knie ausgerenkt, die Kreuzbänder waren verletzt, das Knie wurde zum Problemknie.» Das Ehepaar zog deshalb in die Zentralschweiz, sie trat einem Radclub bei und bestritt Rennen. «Sprinten konnte ich aber nie. Ich habe ja nie gelernt, in der Gruppe zu fahren», sagt sie.
Immer unterstützt von ihrem Mann
Dennoch: Rosmarie Kurz startete 1980 an ihrer ersten Strassen-Weltmeisterschaft, zwei weitere folgten, wie auch der Giro d’Italia und die Tour de France. In der Schweiz begleitete sie immer ihr Mann, «er war mein Manager, mein Helfer, mein Verpfleger».
Sie schwelgt in Erinnerungen, und wenn sie sagen soll, was ihr der Sport gegeben hat, kann sie das in einem Wort: «Befriedigung.» Um dann doch noch auszuholen. «Wir haben viele Leute kennen gelernt, die Leistung hat mir Erfolg gebracht, aber ich habe diesen nie überbewertet. Ich habe das nur für mich gemacht.» Heute steigt sie nur noch selten aufs Rennrad, die beiden haben sich E-Bikes gekauft. «Dagegen habe ich mich lange sehr gesträubt», sagt sie. Doch jetzt gehe es ja vor allem darum, Sport zu treiben, um gesund zu bleiben.
Rosmarie Kurz hebt die Arme, ballt die Fäuste und sagt fast trotzig: «Aber ich bin noch immer robust.»
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