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Karriere zum Profi-Sportler abgebrochen
Endlich weg von allem – Er lebte vier Jahre im Wald

Bei minus 42 Grad im Wald: Markus Torgeby.
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Wer bei minus 42 Grad pinkeln muss, sollte nicht trödeln. Jedes Zögern kann zu Erfrierungen an empfindlichen Stellen führen. Markus Torgeby hatte schon einige Übung im Wildpieseln, schliesslich lebte er seit vielen Monaten in der Wildnis Nordschwedens. Doch derart zapfige Bedingungen hatte er noch nicht erlebt: «Bei minus 42 Grad gefriert dein Urin, bevor er am Boden ankommt.»

Es war der kälteste Tag seines Aufenthaltes im Wald, aber nicht der schlimmste. An die bitterkalten Temperaturen, den Wind und den Hunger hatte er sich schon gewöhnt. Auch Begegnungen mit Elchen und Luchsen brachten ihn nicht aus der Fassung. Was ihm wirklich zu schaffen machte, waren die einsamen Nächte, erzählt Torgeby: «Mir selbst ausgeliefert, umgeben von stummen Fichten, fühlte ich die Angst vor der Dunkelheit.»

Monatelang sprach er kein Wort

Markus Torgeby hatte die Einsamkeit selbst gesucht. Er war aus seinem bisherigen Leben in Südschweden geflohen, hatte sich in den Zug gesetzt und war 800 Kilometer nach Norden gefahren, in die Region Jämtland. Dort baute er sich im Wald eine Hütte aus Ästen und Fellen – und lebte dort viereinhalb Jahre. Er ernährte sich von Beeren, Pilzen, Fisch und Haferflocken, die er alle paar Wochen säckeweise im nächsten Dorf kaufte. Manchmal sprach er monatelang mit niemandem. Die Flucht aus der Zivilisation war seine Rettung, sagt er im Nachhinein: «Die Natur hat meine Seele geheilt.»

Vor gut 20 Jahren war Markus Torgeby erfolgreicher Langstreckenläufer, einer der besten seines Landes. Er war aufgewachsen als ältester Sohn einer Fischerfamilie auf der Insel Öckerö bei Göteborg, aber Fischer werden wollte er nicht. Als junger Mann setzte er alle seine Zukunftshoffnungen auf den Leistungssport und trainierte wie besessen – bis er mit 21 eine folgenschwere Verletzung erlitt. Nach einem Bruch des Mittelfusses musste er das Training aufgeben. Er hatte keinen guten Schulabschluss, keine Berufsausbildung und keinen Plan für sein Leben. Das jähe Karriereende stürzte den Spitzensportler in eine psychische Krise – und führte ihn, mehr spontan als geplant, in die Wildnis.

Von 1999 bis 2004 hauste Torgeby in seinem Tipi, zehn Kilometer entfernt vom nächsten Dorf. Er überlebte die viereinhalb Jahre im Wald nicht nur körperlich, elementare Erfahrungen wie das Schlafen im Freien, Feuermachen, Beerensammeln und Fischen haben ihn auch seelisch geerdet. «Es geschieht etwas mit dir, wenn der Raum, in dem du dich aufhältst, unendlich ist», sagt Torgeby. Mittlerweile ist er 44 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Töchtern. Er sagt, er sei jetzt mit sich im Reinen. Seine Kenntnisse und Einsichten über die Natur gibt er in Workshops, einer Fernsehserie und Büchern weiter.

Er schwafelt nicht wie andere männliche Wildnis-Autoren von «Survival» und «Challenge», sondern berichtet von Ängsten, Dämonen und Schwächen.

Gerade ist von ihm das Buch «Unter freiem Himmel – eine Anleitung für ein Leben in der Natur» erschienen. Darin erfährt der Leser, wie man auch bei Regen ein Feuer entfacht, essbare Pflanzen findet, ein Schlaflager baut und in der Natur seine Notdurft verrichtet. Von den meisten anderen männlichen Wildnis-Autoren unterscheidet ihn, dass er nicht von Heldentaten, Adrenalin, «Survival» und «Challenge» schwafelt, sondern eher im Gegenteil von seinen Ängsten, Dämonen und Schwächen berichtet. Beim Video-Interview wirkt er nachdenklich, lächelt mit seinem vollbärtigen, wettergegerbten Gesicht in die Kamera.

Die Natur habe ihm den Halt gegeben, den er in seinem vorigen Leben vermisst habe, sagt Torgeby. Er war in einer Familie mit vier Kindern aufgewachsen, seine Mutter litt an Multipler Sklerose, sass schon mit 30 im Rollstuhl und musste gefüttert werden, mit seinem Vater konnte er kaum reden. Sein Trainer warf ihm vor, dass er mental nicht reif sei für den Leistungssport, weil er im Training Bestleistungen brachte, im Wettkampf aber immer knapp das Siegertreppchen verpasste.

«Mein Kopf war am Explodieren»

«Ich war damals so gestresst, dass ich nicht mehr essen und schlafen konnte», erzählt Torgeby, «heute würde man sagen, ich hatte einen psychischen Zusammenbruch.» Er hätte wohl dringend psychologische Betreuung gebraucht, aber niemand sprach das Thema an. «Mein Kopf war am Explodieren, also bin ich einfach aus der Situation geflüchtet, um in der Natur Freiheit und Ruhe zu finden», sagt er. Seine Wahl fiel eher zufällig auf einen Wald bei Järpen in der Region Jämtland. Das liegt in der Mitte Schwedens, auf der Höhe von Island, im Winter kann es dort bis zu minus 40 Grad kalt werden.

Er lernte, Feuer zu machen, Essen zu suchen und seine Kleidung zu trocknen. Wenn ihm die Nahrungsmittel ausgingen, übernahm er irgendwo in der Umgebung Aushilfsjobs und kaufte Vorräte ein. Mit der körperlichen Herausforderung kam er klar, «die Ängste und Probleme in meinem Kopf waren schlimmer», erzählt er. Einsamkeit und Dunkelheit machten ihm schwer zu schaffen. Ab und zu rief er seine Eltern an. Aber meistens war er Wochen und Monate alleine, ohne Kontakt zu anderen Menschen. «15 Sekunden Gespräch mit der Verkäuferin im Lebensmittelladen waren fast schon zu viel für mich», sagt Torgeby. «Die Leute im Dorf dachten anfangs, ich sei ein Irrer, aber nach einiger Zeit waren sie sehr freundlich und behandelten mich nett.»

Vier Monate brauchte Markus Torgeby, um seine Ängste in den Griff zu bekommen. Instinktiv fand er zu einer Form der Meditation. Jeden Tag setzte er sich für mehrere Stunden auf einen Baumstumpf und versuchte, ruhig zu werden: «Irgendwann merkte ich, dass ich bei mir angekommen bin.» Danach ging es ihm immer besser. Während seines Aufenthaltes im Wald wurde er kein einziges Mal krank, er erlitt keine schlimme Verletzung, er fühlte sich mental bald stabiler. Die karge Ernährung, die Kälte und die körperliche Anstrengung beim Holzmachen und Beerensammeln härteten ihn ab.

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Eines Tages besuchte ihn ein Freund in der Waldhütte und legte ihm nahe, mal zu Hause anzurufen. Sein Opa lag im Sterben, ausserdem machten sich alle Sorgen um ihn. Also reiste er in den Süden. Auf dem Sterbebett gab ihm sein Grossvater folgenden Satz mit: «Markus, ich rate dir: Such dir eine Frau, heirate sie und lass sie alles für dich entscheiden. Dann hast du keine Probleme mehr.» Drei Monate später lernte er Frida kennen, seine jetzige Frau, zog mit ihr in den Norden und gründete eine Familie.

Die Torgebys leben jetzt in einer ehemaligen Hirtenhütte, nur ein paar Kilometer entfernt von dem Ort, wo das Tipi stand. Die Familie lebt ein einfaches, naturnahes Leben. Es gibt kein Leitungswasser, jeden Morgen muss man den Ofen einheizen, die ersten zehn Jahre gab es keinen Strom in der Hütte. Markus Torgeby lebt von Vorträgen und Workshops, arbeitet zwischendurch als Zimmermann, stellt handgenähte Schlafsäcke und Outdoor-Klamotten her. In seinen Büchern und Workshops will er Leuten helfen, «über die Natur wieder einen Bezug zur Welt zu finden».

Das Leben mit einer Frau und drei Mädchen in der kleinen, abgeschiedenen Hütte sei für ihn als eher wortkargen Einzelgänger manchmal eine Herausforderung, sagt er, aber dennoch perfekt. Tempo, Terminstress und Gewinnstreben hat er komplett abgeschworen. Dafür kümmert er sich bewusst um Dinge, die ihm wirklich wichtig sind: «Jetzt weiss ich: Das Leben ist nicht immer einfach, aber es hat eine Bedeutung.»