Beim Sieg im EM-EröffnungsspielAusgerechnet dem «Spiesser» fliegen die Herzen der Deutschen zu
Toni Kroos ist beim 5:1 gegen Schottland eine der grossen Figuren beim Gastgeber. Dabei ist er erst seit kurzem zurück im Nationalteam – auf Drängen von Trainer Julian Nagelsmann.
Ein Deutscher soll tatsächlich schlechte Laune haben. So jedenfalls erzählt das Trainer Julian Nagelsmann, als es in der Münchner Allianz-Arena auf Mitternacht zugeht. 5:1 hat sein Team zum Auftakt der EM gewonnen, nach drei Endrunden, bei denen das Startspiel jedes Mal verloren gegangen war, avancierte die Partie gegen Schottland zum perfekten Auftakt. Wobei: Einer sah das offenbar anders. Sein Assistenztrainer für Standardsituationen ärgere sich, berichtet Nagelsmann. «Das Gegentor fuchst ihn.»
Wer solche Kleinigkeiten zu beklagen hat, dem geht es gut.
Das 1:4 fiel kurz vor Schluss nach einem Freistoss. Verteidiger Antonio Rüdiger hatte den Kopfball eines Schotten unglücklich ins eigene Tor befördert. Der Treffer war mehr dem Zufall denn einem eigenen Fehler geschuldet. Aber wer einen Start wie die Deutschen hinlegt, der ist vielleicht ganz froh, findet er noch irgendwo ein Haar in der Suppe. «Das war nur der erste Schritt», sagt Nagelsmann. «Aber ein sehr wichtiger und sehr guter.»
Der Sieg macht deutlich, was vermutet werden konnte: Der Schweizer Gruppengegner reiht sich weit vorne unter den Turnierfavoriten ein. Dass trotz des treffsicheren Jokers Niclas Füllkrug ein herausragender Mittelstürmer fehlt? Ist nach dem fluiden Angriffsfurioso von Kai Havertz, Jamal Musiala und Florian Wirtz vorerst vergessen. Und die Torhüterdebatte? Konnte gar nicht erst wieder entfacht werden, weil die Schotten so nett waren, Manuel Neuer mit keinem einzigen Schuss zu prüfen.
Das Augenmerk von Nagelsmann
Dabei ist es kein Jahr her, seit Nagelsmann als Nothelfer ¨übernommen hat. Hinter den Deutschen lag eine Phase, in der sie nur 5 von 18 Partien gewonnen hatten. Der «Kicker» machte «Alarmstimmung» aus. «Bild» bat die Uefa, zwar nur ironisch gemeint: «Können wir die Heim-EM vielleicht auf 2028 verschieben?» Der «Spiegel» titelte: «Zum Glück ist der EM-Gastgeber vorqualifiziert».
Die Deutschen plagten Selbstzweifel, sie hatten Probleme vorne wie hinten. Sie waren keine Mannschaft, sondern eine Ansammlung von Einzelspielern. Das zu ändern – darauf lag ein Augenmerk Nagelsmanns. Wie sehr er auf den Teamgedanken achtet, zeigt sich an der Medienkonferenz nach dem Sieg gegen Schottland. Als er etwas zu seiner Flügelzange Wirtz/Musiala sagen soll, die für die ersten zwei Tore sorgte, findet er, es wäre dem Gemeinschaftssinn nicht zuträglich, einzelne Spieler herauszupicken.
Eine Ausnahme macht Nagelsmann allerdings. Als er auf Toni Kroos angesprochen wird, sagt er über seinen 34-jährigen Mittelfeldspieler: «Er ist unser Ruhepol.» Und gerät dann ins Schwärmen, wie mühe- und selbstlos sich Kroos trotz seiner Vita ins Gefüge eingegliedert habe.
Kroos ist Weltmeister und sechsfacher Champions-League-Sieger. Aber in seiner Heimat ist ihm immer etwas unterkühlt begegnet worden. «Querpass-Toni» nannten sie ihn, das war nicht als Kompliment gedacht. Der «Tagesspiegel» fragte am Tag des Eröffnungsspiels in Grossbuchstaben: «Spieler, Spiesser, Superstar: Toni Kroos – zu deutsch für die Deutschen?»
Die Passquote von 99 Prozent
Nagelsmann hatte Kroos nach fast dreijähriger Absenz in vielen Gesprächen über den Winter zur Rückkehr ins Nationalteam bewogen. Er wusste ganz genau, was ihm dieser geben kann. Als der Tag des Eröffnungsspiels zu Ende geht, weiss es auch das Publikum.
Kroos wird bei seiner Auswechslung in der Schlussphase von Standing Ovations begleitet. 101 seiner 102 Pässe hat er an die Mitspieler gebracht, das ergibt eine Erfolgsquote von absurden 99 Prozent. Eines seiner ersten Zuspiele leitete das 1:0 von Wirtz in der 10. Minute ein. Kroos ordnete und beruhigte das Spiel, auch mit Querpässen. Er war allgegenwärtig. Als wäre er nie weg gewesen.
Nach der EM wird er seine Karriere beenden. Das lädt seine Geschichte mit Dramatik auf. Vielleicht ist es genau diese Wendung, die es gebraucht hat, damit ihm endlich überall in Deutschland die verdiente Anerkennung zuteilwird.
Aber Kroos wird schon wissen, dass es nicht noch einmal so leicht wird wie gegen die inferioren Schotten. Einer der unzähligen Fehler der Briten war, ihm am Ball so viel Zeit und Raum zu gewähren.
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