Sommermärchen ist ausgeträumtErst völlig losgelöst – sind die Deutschen auf einmal völlig aufgelöst
Sie bibbern, sie stürmen an und retten sich in die Verlängerung. Doch dann endet das Turnier für die Deutschen im Viertelfinal gegen Spanien dramatisch.
Und dann ist alles vorbei. Dann endet die Heim-EM für den Gastgeber im Viertelfinal von Stuttgart. Statt völlig losgelöst sind die Deutschen völlig aufgelöst.
Mikel Merino heisst der Spielverderber, er ist Mittelfeldspieler Spaniens. Und er trifft in der 119. Minute mit dem Kopf zum 2:1. Gerade noch haben sich die Deutschen durch ein Tor von Florian Wirtz in die Verlängerung gerettet (89.), gerade noch fühlten sie sich oben auf. Sie waren die bessere Mannschaft, sie hofften, nach einem Hands von Marc Cucurella einen Penalty zugesprochen zu bekommen. Sie taten das zurecht, aber vergebens. Stattdessen steht jetzt in den Gesichtern auf der Tribüne Fassungslosigkeit. Und unten auf dem Platz schüttelt Toni Kroos ungläubig den Kopf.
Er, der einmal die Weltmeisterschaft und sechsmal die Champions League gewonnen hat, muss sich an ein neues Gefühl gewöhnen. Das letzte Spiel seiner grossartigen Karriere wird zur Niederlage. Auch weil Niclas Füllkrug in der Verlängerung der Verlängerung aus guter Position mit dem Kopf vergibt. «Der Traum, den wir alle hatten», sagt Kroos, als er sich gesammelt hat, «ist geplatzt.»
Die Spanier ziehen in den Halbfinal ein. Derweil beginnt für den Gastgeber die Verarbeitung. Das werde ein paar Tage dauern, findet Kroos. Vor der Partie hatte er angekündigt, in diesem Fall keine Minute mehr des Turniers schauen zu wollen, Verdrängung als Mittel zum Zweck. «Wir haben alles reingelegt, um nicht zu verlieren», sagt er noch. «Und wir waren sehr nahe dran. Umso bitterer ist es.»
Der Schiedsrichter schwankt
Als vorgezogener Final ist die Partie beschrieben worden, als Duell der Giganten: Kroos gegen Rodri, Jamal gegen Yamal – das Abgeklärteste und Aufregendste, das die EM zu bieten hat.
Kroos erzählte unter der Woche, dass er die Anspielzeit um 18 Uhr nicht so mag, weil sie ihn daran hindere, den Tag hindurch ausgiebig zu schlafen. So wirkt er: nicht ausgeschlafen. Er kommt zu spät und trifft Pedri derart hart, dass dieser nach acht Minuten ausgewechselt werden muss. Dass Kroos nicht die Gelbe Karte sieht, ist ein erstes Indiz für die schwache Leistung von Schiedsrichter Anthony Taylor. Die Linie des Engländers erinnert an die Gangart der Besucher der naheliegenden Wasen um Mitternacht: Sie ist schwankend.
Kroos ist das Metronom der Deutschen, ist er aus dem Takt, ist es auch ihr Spiel. Dementsprechend beginnen sie: nervös, schludrig – mit einem Publikum im Rücken, dem die Anspannung anzumerken ist. Als Kroos einen Fehlpass spielt, geht ein Schrei des Entsetzens durchs Stadion.
Natürlich hat der wackelige Beginn der Gastgeber mit dem Druck zu tun, den die Spanier aufsetzen. So haben sie an diesem Turnier das Spiel ihrer Gegner erstickt. Aber Deutschland ist nicht Italien, Deutschland hat die Qualität, sich aus der Bedrängnis zu lösen. Und bald schon gelingt dies dem Team von Trainer Julian Nagelsmann. Kai Havertz bieten sich zwei Chancen, er ist als Mittelstürmer aufgestellt, aber eigentlich ist er kein Mittelstürmer. Da liegt das Problem: Goalie Simon pariert zweimal mühelos.
Auf der anderen Seite ist Manuel Neuer nicht stärker gefordert. Die erste Halbzeit erfüllt die turmhohen Erwartungen an diese Partie nicht. Aber das Spiel wird besser, vor allem wird es dramatischer.
Nagelsmann reagiert, er bringt Wirtz für Sane und Andrich für Can. Letzter, kurz vor der EM aus dem Urlaub nachnominiert, war die Überraschung in der Startaufstellung. Er ist kein feiner Fussballer wie so viele bei den Deutschen, er wirkt mit seiner Physis und seinem Tempo. Und er fehlt, als sich die Spanier zu einem weiteren Angriff anschicken. David Raum lässt hinten links Lamine Yamal zu viel Raum, Andrich verliert Olmo aus den Augen. Und der eingewechselte Spielmacher von Leipzig trifft überlegt zur Führung (51.). Ausgerechnet Olmo, der für den verletzten Pedri eingewechselt wurde, bestraft die Deutschen. «Karma is a bitch», sagt man dazu auf Neudeutsch.
Der Ansturm der Deutschen
Die Führung hat auch noch Bestand, als es in die Schlussphase geht. Die Minuten verrinnen. Mal für Mal haben sie die Deutschen angeschickt, das 0:1 wettzumachen. Mittelstürmer Füllkrug ist eingewechselt worden, irgendwann sogar Thomas Müller, der längst mehr Unterhalter und Botschafter ist als gefürchteter Raumdeuter.
Aber Mal für Mal sind die Deutschen gescheitert, an Simon, in Person von Füllkrug auch am Pfosten (77.). Der Gastgeber könnte längst das Gefühl haben, dass es hier und heute nicht sein Abend ist. Aber das ist ihm nie anzumerken. Er stürmt an, aber nicht wild und verzweifelt. Die Spanier, an dieser EM für ihren Offensivfussball gefeiert, sind nicht mehr wiederzuerkennen.
Der Ball kommt zum eingewechselten Maximilian Mittelstädt. Der Linksverteidiger flankt auf Rechtsverteidiger Joshua Kimmich, und der hat am hinteren Pfosten die richtige Idee. Er legt mit dem Kopf zurück, der eingewechselte Florian Wirtz kommt angerauscht und trifft zum 1:1. In Stuttgart gibt es kein Halten mehr.
In diesem Moment sind die Deutschen tatsächlich völlig losgelöst. Sie wissen da noch nicht, dass sie ihren Auftritt am Heimturnier nur um gut eine halbe Stunde verlängert haben.
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Die Ausgangslage
Fantastische Jungstars, grossartige Regisseure und schlaue Trainer: Dieses Duell hat alles. Die Kollegen Rohner und Wuillemin haben unter der Woche aufgeschrieben, was für wen spricht. Den Text dazu finden Sie hier.
Guten Abend …
… und herzlich willkommen! Sind Sie auch schon in Final-Stimmung? Wir schon. Denn bei der Begegnung, die heute um 18 Uhr auf dem Programm steht, könnte es sich gut und gerne um einen EM-Final handeln. Es spielt der Gastgeber gegen Spanien – das kann ja nur gut werden.
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