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Eltern-Kind-Entfremdung
Keine Anrufe, keine Geschenke – Leo (14) will vom Vater nichts mehr wissen

Einsamer Zuschauer: Leos Fussballtraining gibt dem Vater die Chance, den Sohn hin und wieder zu sehen.
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Wenn Leo im Fussballtraining ist, schaut sein Vater manchmal heimlich zu. Es ist seine einzige Möglichkeit, ihn hin und wieder zu sehen. «Ich werde meinen Sohn niemals aufgeben», sagt er.

Wenn der 14-jährige Leo seinen Vater entdeckt oder von ihm hört, wird er wütend. Zur Mutter sagt er: «Der Hurensohn hat mir wieder geschrieben. Ich habs nicht gelesen.» Das Whatsapp-Profilbild des Vaters zeigt ihn mit Leo Arm in Arm, beide strahlen. Bis vor drei Jahren hätten sie eine innige Beziehung gehabt, sagt der Vater und zeigt Fotos, wie Leo sich bei ihm auf seinen Schoss setzt. Bilder aus guten Zeiten.

Leos Eltern leben seit etwa vier Jahren getrennt, ein Gericht verfügte, dass der Sohn je zur Hälfte bei Vater und Mutter wohnen soll. Doch das wurde nie umgesetzt. Leo will seinen Vater seit drei Jahren nicht mehr sehen und auch sonst nichts mehr von ihm. Keine Anrufe, Mails oder Geschenke. Vater und Sohn wohnen kaum zwei Kilometer voneinander entfernt.

13’000 Kinder in der Schweiz betroffen

Laut Familienbericht des Bundesamts für Statistik hat knapp ein Zehntel der getrennt lebenden Väter und Mütter, deren Kinder beim anderen Elternteil wohnen, keinen Kontakt mehr zum Kind. Schätzungen zufolge betrifft das in der Schweiz rund 13’000 Kinder. Davon geht Oliver Hunziker, Präsident des Vereins für gemeinsame Elternschaft (Gecobi), aus.

Hunziker hat vor über zehn Jahren mit einer spektakulären Pflasterstein-Aktion bei der damaligen Justizministerin Simonetta Sommaruga Aufsehen erregt, bald darauf trat 2014 das gemeinsame Sorgerecht in Kraft. Ein erster Meilenstein. Danach ist viel passiert, Gesetz und Rechtsprechung wurden geändert. Getrennt lebende Väter haben heute bessere Chancen, ihre Kinder mitzubetreuen.

BILD: RETO OESCHGER, ZUERICH, 2019-01-31
RESSORT: BB
Oliver Hunziker vom Vaterzentrum, Stiftungsrat
Klopstockwiese

Nur: Die Fälle von Kontaktabbrüchen zwischen Trennungskind und Vater oder Mutter häufen sich. Sie seien in den letzten Jahren überproportional gestiegen, sagt Hunziker. Davon geht er aus, weil die Zahl der Scheidungen zwar konstant geblieben, jene der eingesetzten Besuchsrechts­beistandschaften aber sprunghaft angestiegen ist. Die Beistände werden eingesetzt, wenn das Kontaktrecht zwischen Kind und einem Elternteil nach der Trennung nicht oder nur mangelhaft funktioniert.

Kürzlich hat Hunziker die Kampagne «Genug Tränen» lanciert. Das neue Familienrecht müsse konsequenter umgesetzt, Fachleute müssten besser geschult werden, sagt er. «Noch immer ist es möglich, dass ein Elternteil dem anderen das Kind entzieht.»

Es geht auch um Geld

Leos Mutter würde der Aussage, sie habe dem Vater das Kind entzogen, vehement widersprechen. Ein hundertseitiges Gutachten zeigt jedoch, dass die Mutter durchaus einen Anteil an der Entfremdung hat. Das Gutachten, das dieser Redaktion vorliegt, hat das zuständige Bezirksgericht bei einer Kinderpsychologin in Auftrag gegeben. Das Ziel: «Wiederaufbau des Kontakts zwischen Vater und Sohn».

Leo ist 10, als seine Eltern sich trennen. Die Mutter zieht mit dem Kind ins Nachbardorf, Leo besucht den Vater regelmässig. Er sei nur widerwillig zum Vater gegangen, erzählt die Mutter später der Gutachterin. Der Vater sagt, sie seien sich sehr nahe gestanden. Aber Leo sei unter Druck gewesen, die Mutter habe ständig angerufen und gesagt, sie vermisse ihn.

Der Vater wird als ambitiös und fordernd beschrieben. Er trieb seinen Sohn zu Leistung in Schule und Sport an, hatte einen strengeren Erziehungsstil, während die Mutter als verwöhnend und gewährend charakterisiert wird. Sie betreue Leo umsichtig und fürsorglich, doch erzieherisch könne sie dem meinungsstarken Teenager wenig entgegensetzen.

Der Kontaktabbruch erfolgt ein knappes Jahr nach der Trennung. Das Bezirksgericht entscheidet, dass Leo in alternierender Obhut bei beiden Eltern hälftig wohnen soll. Der Vater hatte das beantragt, die Mutter willigte schliesslich ein. Es ging auch um Geld. Die Mutter wollte einen hohen Alimentenbetrag, und sie hörte auf ihre Anwältin, die ihr riet, das Besuchsrecht mit der Frage des Unterhalts zu verknüpfen.

Das Gericht entschied anders. Da eskalierte die Situation. Noch am selben Tag schrieb der aufgebrachte Leo seinem Vater, er werde jetzt nicht mehr zu ihm kommen. Beschimpfte ihn. Das Wochenende vor dem Gerichtsentscheid war das letzte, das Leo und sein Vater zusammen verbracht haben. Ein halbes Dutzend Fachleute sind mit dem Fall beschäftigt. Beiständin, Kinderanwalt, Psychologin und weitere. Vergeblich.

Zunehmend auch Mütter betroffen

Um den Begriff Eltern-Kind-Entfremdung – oder Parental Alienation – gibt es seit Jahren eine Kontroverse. Zum einen, weil der Erfinder des Begriffs von «Parental Alienation Syndrome» sprach, was beim betroffenen Kind eine Krankheit impliziert, die wissenschaftlich nicht erwiesen ist. Zum anderen, weil der Begriff insinuiert, dass die Entfremdung vom hauptbetreuenden Elternteil erwirkt wurde.

«Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum ein Kind seinen Elternteil nicht mehr sehen will», sagt der Basler Rechtsanwalt Jonas Schweighauser. Der Kanton Basel-Stadt startet im Januar 2025 mit einem Pilotprojekt zur Verhinderung von Kontaktabbrüchen. «Frühe Intervention und Beratung der Eltern sind entscheidend», sagt Schweighauser.

Das Zürcher Amt für Jugend und Berufsberatung unterscheidet im Handbuch «Hochstrittige Umgangskonflikte» zwischen reaktiver und induzierter Entfremdung. Reaktiv bedeutet, dass das Kind den Elternteil aus nachvollziehbaren Gründen wie Gewalt oder Missbrauch ablehnt. Induziert heisst: Eine Bezugsperson hat an der Entfremdung manipulierend mitgewirkt. Bei induzierter Entfremdung seien die negativen Gefühle wie Wut, Hass, Ekel und Angst oft unverhältnismässig, die Begründungen absurd, irrational, entlehnt oder falsch.

Von radikalen Lösungen rät das Handbuch der Zürcher Bildungsdirektion ab. Also keine Fremd- oder Umplatzierung des Kindes zum anderen Elternteil, etwa aus dem Wunsch heraus, «Gerechtigkeit» herzustellen. Auf durchsetzende Gewalt seitens der Behörden sei zu verzichten, zum Schutz des Kindes. Allerdings: Auch Kontaktabbrüche schaden dem Kind.

Gerichtshof schliesst harte Massnahmen nicht aus

In eine andere Richtung geht die internationale Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügte jüngst mehrere Staaten, weil sie bei Eltern-Kind-Entfremdung nicht rasch und entschieden genug gehandelt hatten. 2019 verurteilte der EGMR Moldau, geklagt hatte eine Mutter, der nach der Trennung die Söhne vom Vater entfremdet wurden. Der EGMR anerkennt in diesem Urteil das Phänomen «Parental Alienation» und spricht von emotionalem Missbrauch an den Kindern. Moldau musste der Mutter 14’000 Euro Schadenersatz und Prozessentschädigung zahlen, was mehreren durchschnittlichen Jahresgehältern entspricht.

Evangelische Hochschule Nürnberg

Die deutsche Familienrechtsexpertin Hildegund Sünderhauf und Martin Widrig von der Universität Freiburg kommen in einer juristischen Analyse zum Schluss: Der EGMR ist radikalen Lösungen nicht abgeneigt. Er hätte in diesem Fall Zwangsmassnahmen wie eine Fremdplatzierung der Kinder für vertretbar gehalten.

Auch Bulgarien, Italien, die Ukraine und – dieses Jahr – die Slowakei wurden vom EGMR gerügt wegen zu zögerlichen Vorgehens bei Eltern-Kind-Entfremdung. Meistens sind Väter betroffen, zunehmend aber auch Mütter. «Es war immer klar, dass Kindesentfremdung kein reines Väterproblem ist. Dass nun immer mehr Fälle bekannt werden, die Mütter betreffen, hilft uns, in Politik und Justiz Gehör zu finden», sagt Oliver Hunziker.

«Die Entfremdung ist für Leo nicht gesund»

Leos Entfremdung vom Vater habe mit zahlreichen ineinandergreifenden Faktoren zu tun, schreibt die Gutachterin. Ein zentraler Punkt: «Die Mutter hatte einen ungünstigen Einfluss auf die Vater-Sohn-Beziehung.» Dafür gebe es viele Belege, etwa die Weigerung der Mutter, sich mit dem Vater auf einer Beratungsstelle auseinanderzusetzen, ihre Drohungen, den Vaterkontakt nur nach ihren Bedingungen zu gewähren, ihre abwertenden Äusserungen über den Vater vor Leo, ihre Angabe, sie und Leo hätten Angst vor dem Vater, ihre übertriebenen Ängste, was Leo beim Vater geschehe.

«Die Mutter hat mit ihrem Verhalten die Entfremdung des Kindes vom Vater unterstützt.» Dies womöglich unbewusst, schreibt die Gutachterin. Und das aktuelle Ergebnis habe die Mutter wahrscheinlich so nicht beabsichtigt. So habe die Mutter bei der Gutachterin geweint, als sie von der Trennung ihrer Eltern erzählt habe. Sie habe immer verhindern wollen, dass auch ihre eigene Familie auseinanderbreche.

Die Gutachterin legt der Mutter eine Therapie ans Herz, in der sie lernt, ihren Anteil an der Geschichte zu sehen, sich selber zu reflektieren und zu erkennen, dass sie die Geschehnisse aktiv steuern konnte.

Über den Vater heisst es: «Er hat hohe Erwartungen und Hoffnungen betreffend die intellektuelle Entwicklung seines Sohnes.» Es sei nicht auszuschliessen, dass er Leo damit überfordert habe. Gerade im Kontrast zur verwöhnenden Mutter habe der Vater den Sohn womöglich zu stark «gepusht». Trotzdem – oder gerade deshalb – wäre der Einfluss des Vaters laut Gutachterin förderlich.

Leo sei es gewohnt, wenig Grenzen gesetzt zu bekommen, auch in der Schule verhalte er sich, wie es ihm gerade passe. Der Vater wäre für Leo eine wichtige Orientierungsgrösse, könnte ihn bereichern und herausfordern. Ihn dazu bringen, sich zu messen und auch einmal Frust zu überwinden. «Die Entfremdung vom Vater ist für Leo nicht gesund», heisst es. «Negative Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung sind zu erwarten.» Man könne diesen Zustand aber nicht einfach so ändern, schon gar nicht mit Anordnungen.

Der Vater soll «Liebesopfer» erbringen

«Der Vater ist aufgefordert, loszulassen», folgert die Gutachterin. Seine zunehmende Verzweiflung habe bei ihm übertriebenen Aktivismus ausgelöst, wie zahlreiche Mails oder langes Klingeln an der Wohnungstür. Er werde mit seiner Hilflosigkeit umgehen und die Situation akzeptieren müssen. «Das würde nicht heissen, den Sohn zu verlassen, sondern, das Feld der bisher unergiebigen Aktivitäten jetzt zu verlassen und darauf zu vertrauen, dass der Sohn den Kontakt zum Vater sucht.» Natürlich bestehe die Gefahr, dass dies nicht geschehe, was für den Vater – wie für alle betroffenen Elternteile – eine grosse Herausforderung wäre. «Dies auszuhalten, könnte ein Liebesopfer darstellen.»

Der Vater sagt: «Wenn die Gutachterin von mir verlangt, loszulassen, unterstützt sie den seelischen Missbrauch an Leo.» Er werde das nicht tun. Er habe für sich beschlossen, bei seinen Werten zu bleiben. «Meine Aufgabe, die Aufgabe aller Eltern, ist es, ihr Kind vor jeder Art von Missbrauch zu schützen.» Er schaut weiterhin zu, wenn Leo Fussballtraining hat. Und sitzt in den Zuschauerrängen, wenn ein Turnier stattfindet. Selbst wenn er dafür ein paar Hundert Kilometer durch Europa reisen muss. Er ist stolz, wenn sein Sohn Tore schiesst. Und freut sich, wenn er feststellt, dass Leo manchmal in seine Richtung schaut.