Lockdown in RusslandEingesperrt mit dem Täter
In der Corona-Krise häufen sich Fälle häuslicher Gewalt noch mehr als sonst. Den Frauen fehlen Zufluchtsorte, zudem gelten Prügel in der Familie noch immer als Kavaliersdelikt.
Die Mutter möchte nicht reden, das übernimmt der Sohn für sie. Es ist alles noch so frisch. Vor zehn Tagen hat sie ihren Mann verlassen, mit dem sie seit fünf Jahren verheiratet ist und der sie seit einem halben Jahr schlägt. Sohn Sascha aus früherer Ehe studiert in Sankt Petersburg. Die Mutter lebt in Moskau. Der neue Mann, sagt der Sohn am Telefon, wollte von Anfang an das Leben seiner Mutter kontrollieren, er verbot ihr Kontakte zu Familie und Freunden, war eifersüchtig, hörte ihr Telefon ab, «wusste immer, wo sie war».
Die Pandemie verschärfte die Lage. Der Mann, ein Automechaniker, wurde arbeitslos. Die Mutter, die als Ärztin für die Stadt Pflegefälle betreut, steckt sich mit Covid-19 an und musste in Quarantäne. Für den Mann war es praktisch, dass sie gar nicht mehr raus durfte. Als es ihr schlechter ging und sie einen Freund anrief, hörte er am Telefon mit, schlug wieder zu. Da setzte sich der Sohn in den Zug nach Moskau, um die Mutter da rauszuholen, trotz Selbstisolation und Quarantäne. Gegen die Mutter läuft daher jetzt ein Verfahren. Beide wollen ihre vollen Namen nicht nennen.
«Was hast du getan, dass er dich schlägt?»
Überall, wo das Virus die Menschen an die Wohnung fesselt, steigt der Druck. Angst vor der Zukunft, Stress, weil der Job weg ist, Frust, weil man sich kaum bewegen kann, all das erhöht das Konfliktpotenzial. In Russland macht ein weiteres Problem die Lage besonders gefährlich: Häusliche Gewalt wird oft kleingeredet, nicht ernst genommen, schon gar nicht während der Pandemie.
Da sitzt in Moskau ein Bischof vor der Kamera und fordert Frauen auf, ihre Männer weniger zu kritisieren, um Spannungen zu vermeiden. Da sagt eine bekannte Schauspielerin, wer öffentlich über Schläge klagt, der sei selbst psychisch krank. Die Frauen müssten sich doch fragen: «Was hast du getan, dass er dich schlägt?» Da erklärt die mächtige Vorsitzende des Föderationsrates, Walentina Matwijenko, sie glaube kaum, dass die Selbstisolation das Problem verschärfe. «Im Gegenteil, Familien überstehen diese schwierige Periode zusammen.»
Leider stimmt das nicht immer. «Wir haben alle mehr Fälle als sonst», sagt Mari Dawtjan, Anwältin und Frauenrechtlerin, und meint Krisenzentren wie «Anna» oder «Kitesch». Auch die Menschenrechtsbeauftragte Russlands spricht von rund 13’000 Hilferufen im April, zweieinhalbmal so viele wie im März.
«Er verliert den Job, fängt an zu trinken, fängt an zu schlagen.»
Die meisten Opfer häuslicher Gewalt sind Frauen, aber auch Kinder und Rentner suchen Hilfe. «Das ist sicher nicht das Ende der Geschichte», sagt Mari Dawtjan, die Zahlen werden weiter steigen. Viele Frauen machten jetzt die Pandemie für die Gewalt verantwortlich, wollten den Mann nicht anschwärzen. Wer sich doch meldet, beschreibt oft dasselbe Muster: «Er verliert den Job, fängt an zu trinken, fängt an zu schlagen», sagt Dawtjan.
Die Selbstisolation in Moskau und anderen Städten versperrt zudem die Fluchtwege. Hilfe zu rufen, fällt schwer, wenn der Täter immer da ist. Die Moskauer müssen wegen des Virus spezielle Pässe beantragen, bevor sie in die Metro oder ins Taxi steigen dürfen. Niemand kann einfach so hinausgehen, auch die Opfer häuslicher Gewalt nicht. Wohin sollten sie auch fliehen? Die Hilfszentren haben geschlossen, viele Ambulanzen konzentrieren sich auf Covid-19-Patienten.
Nun haben die Täter ein neues Druckmittel. Als Sascha seine Mutter aus der Moskauer Wohnung holte, war die 14-tägige Quarantänefrist nicht vorbei. Der verblüffte Ehemann leistete zwar keinen Widerstand, zeigte sie aber später bei der Polizei an. Der Sohn brachte die Mutter zu Fuss in die Wohnung von Freunden, dann rief er Mari Dawtjan an. Die Anwältin hat eine Bestätigung vom Innenministerium, dass Opfer häuslicher Gewalt die Isolation verlassen dürfen, wenn sie in Gefahr sind. Das kann Saschas Mutter nachträglich schwer beweisen. «Sie hat die Spuren der Schläge nie fotografiert», sagt der Sohn. Er weiss nicht, wie es mit der Anzeige weitergeht. Aber eines sei klar: Sie will die Scheidung.
Die Hälfte der Anzeigen geht bei der Polizei verloren
Mehrere Menschenrechtsorganisationen haben sich im April an die Regierung gewendet. Sie forderten, Opfer häuslicher Gewalt nicht zu bestrafen, wenn sie die Ausgangssperre verletzten – und diese Ausnahme öffentlich zu machen. Sie fordern genügend Zufluchtsorte und dass die Polizei auf Hilferufe reagiert. Die scheint sich derzeit auf andere Dinge zu konzentrieren.
In Uljanowsk kam eine Frau auf die Wache, weil ihr gewalttätiger Ex-Mann das gemeinsame Kind nicht herausgeben wollte. Die Polizei verhängte eine Geldstrafe – an die Frau, die keine Gesichtsmaske trug. Im sibirischen Krasnojarsk baten zwei Mädchen, Teenager, eine Polizeistreife um Hilfe. Ein Unbekannter hatte sie auf der Strasse überfallen und sexuell missbraucht. Die Polizisten nahmen ein Protokoll auf – gegen die Mädchen, die nicht draussen sein durften. Inzwischen liessen die Behörden mitteilen, dass sie von einer Geldstrafe absehen.
Gewalt in der Familie gilt in Russland oft als Ordnungswidrigkeit. Ersttätern droht eine Geldstrafe, häufig der Mindestbetrag von umgerechnet rund 65 Franken. Beinahe die Hälfte der Anzeigen, das hat eine Opfer-Umfrage für das Parlament ergeben, geht irgendwo bei der Polizei verloren.
Die Kirche sieht ein Gesetz gegen häusliche Gewalt als Angriff auf traditionelle Werte
Frauenrechtlerinnen wie Mari Dawtjan versuchen seit Jahren, ein Gesetz durchzubringen, das häusliche Gewalt zur Straftat macht. Vergangenes Jahr arbeitete sie an einem neuen Entwurf mit. Doch in der Fassung, die dann vom Föderationsrat veröffentlicht wurde, fehlten viele ihrer Formulierungen. Physische Gewalt war plötzlich nicht mehr Teil des Entwurfs, sagt Mari Dawtjan. Wenn eine Frau geschlagen wird, nützt dieses Gesetz ihr gar nichts. Die Anwältin hofft daher, dass der Entwurf noch einmal umgeschrieben wird.
Dabei gab es schon gegen den abgemilderten Vorschlag viel Gegenwehr. Einige konservative Gruppen, und auch die russisch-orthodoxe Kirche, betrachten ein Gesetz gegen häusliche Gewalt als Angriff auf die «traditionellen geistlich-moralischen Werte». Was in jedem anderen Land ein Problem ist, darf in Russland keines sein, sagt Dawtjan, sonst könne man nicht mehr hochhalten, «dass die russische Familie besser ist als die Familien in anderen Ländern».
Die Datenlage ist dünn. Eine Lewada-Umfrage hat vergangenes Jahr ergeben, dass etwa ein Drittel der Befragten mit häuslicher Gewalt in Berührung gekommen ist, sie in der eigenen Familie erlebt oder in anderen Familien beobachtet hat. 2018 registrierte die Polizei mehr als 34’000 Vergehen «verbunden mit häuslicher Gewalt» in Russland.
Die Zahl stammt aus einer Studie für den Europarat. Ein Bericht für die Vereinten Nationen von 2007 ging davon aus, dass in Russland jährlich 14’000 Frauen von ihrem Partner getötet werden, die meisten, während sie versuchen, ihn zu verlassen.
Mit dem Biest meint er das gemeinsame Kind
«Wegen des Coronavirus haben wir jetzt eine katastrophale Situation», sagt Aljona Popowa, die die Organisation «Ty ne odna» gegründet hat, «Du bist nicht allein». Die Organisation hat Protokolle betroffener Frauen gesammelt, die Namen sind geändert. Eine Frau, die sich Jelena nennt, ist zu einer Bekannten geflohen. Ihr Mann schickt ihr SMS wie diese: «Ich bring dich um und dieses Biest.» Mit dem Biest meint er das gemeinsame Kind. Durch die Ausgangssperre hat Jelena ihren Job im Kindergarten verloren. Sie habe kein Einkommen, keine Wohnung, aber Angst, schreibt sie.
Schläge gab es auch schon vor der Quarantäne, schreibt eine Frau unter dem Namen Anastasija. Wegen des Virus verlor der Mann seinen Job, der dreijährige Sohn quengelte, weil er nicht raus durfte, das Geld wurde knapp. Als ein Streit eskalierte, bedrohte der Mann Mutter und Sohn mit einem Messer. Ein paar Tage später drohte er, mit dem Kind wegzufahren und dass sie ihn nie wiedersehe. Da nahm sie ihren Sohn auf den Arm, rannte los, und während sie rannte, rief sie die Polizei. Die brauchte fast eine Stunde zu ihr, in der Zeit «kann er uns in Stücke schneiden und begraben», schreibt sie. Inzwischen ist sie ausgezogen.
Anna Riwina leitet in Moskau das Hilfszentrum «Nasiliju net» (Nein zu Gewalt), derzeit aus dem Homeoffice. Meistens, sagt sie, seien die Frauen nicht bereit dazu, den Mann zu verlassen. Weil sie erstens nicht wüssten, wo sie auf Dauer hinsollten. Zweitens aus Angst, dass er es ihnen heimzahlt. Auch Anna Riwina erreichen nun mehr Hilferufe als sonst.
Sie glaubt, das liege vor allem an der Schauspielerin Regina Todorenko – jener Frau, die im Interview so wenig Verständnis für Opfer häuslicher Gewalt zeigte. Die Schauspielerin wurde daraufhin so heftig kritisiert, dass sie sich entschuldigt und einen Film über das Thema gedreht hat. Darin kommt Anna Riwina zu Wort, seither gibt es viel mehr Anfragen. Für Riwina zeigt das: Viele Opfer wissen gar nicht, an wen sie sich wenden können.
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