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Meinung

Eine vermutete Schändung – was braucht es noch mehr?

Kein politisches Amt mehr: Jolanda Spiess-Hegglin, damals noch Kantonsrätin der Zuger Grünen, im Januar 2015.
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Das Urteil wird uns alle betreffen. Mitte Juni entscheidet das Kantonsgericht Zug, ob und unter welchen Umständen die Medien über intime Angelegenheiten prominenter Personen berichten dürfen – am konkreten Beispiel eines «Blick»-Artikels von Ende 2014. Die Zeitung hatte vermeldet, dass die Grünen-Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin und ihr SVP-Ratskollege Markus Hürlimann sich an der Landammann-Feier nähergekommen waren. Dass Spiess-Hegglin sich daraufhin ärztlich untersuchen liess, dass sie vermutete, man habe ihr narkotisierende Substanzen verabreicht, und dass Hürlimann vorübergehend ins Gefängnis musste.

Medizinische Tests haben die Vermutung mit den Substanzen nicht bestätigt. Trotzdem folgte auf die erstmalige Berichterstattung durch den «Blick» eine beispiellose Medienschlacht mit Meinungen, Thesen und Anschuldigungen, dazu Häme und Hass, die sich auf allen Kanälen über die Protagonisten, vor allem über Spiess-Hegglin, ergossen. Heute, viereinhalb Jahre später, hat Jolanda Spiess-Hegglin kein politisches Amt mehr, dafür den Bekanntheitsgrad einer umstrittenen TV-Moderatorin. Sie fordert von Ringier eine Entschuldigung und Genugtuung und behält sich vor, auch auf Gewinnherausgabe und Schadenersatz zu klagen.

Triftige Gründe für einen Bericht

Für die Informations- und die Medienfreiheit, also für die Gesellschaft insgesamt, ist zu hoffen, dass das Gericht die Klage von Spiess-Hegglin abweist. Das Medienrecht stellt sehr hohe Anforderungen an einen Eingriff in die Intimsphäre. Doch diese waren in diesem Fall gegeben: Der Präsident der SVP Kanton Zug sass in Haft, weil er verdächtigt wurde, die Co-Präsidentin der Zuger Grünen geschändet zu haben. Zur Polizei gehen kann jeder, aber dass diese gleich mit den Handschellen ausrückt – dafür braucht es mehr als eine aus der Luft gegriffene Anschuldigung. Offenbar gab es Gründe, anzunehmen, dass die Vermutung wahr sein könnte. Ein Politiker, der im Gefängnis sitzt, und eine Politikerin, die wegen vermuteter Schändung ins Spital geht – wenn das kein Grund ist, vom Schutz der Intimsphäre abzusehen, was dann?

Dass Jolanda Spiess-Hegglin heute nicht das Leben führt, das sie gerne führen würde, wie ihre Anwältin am Mittwoch vor Gericht sagte, hat mehrere Ursachen. Auf der einen Seite sind da die Tausenden von Medienberichten. Auf der anderen Seite ist Jolanda Spiess-Hegglin selber, die darauf besteht, geschändet worden zu sein (will heissen: in wehrlosem Zustand missbraucht), und damit ihren ehemaligen Ratskollegen weiterhin zumindest indirekt beschuldigt. Die Schlacht gipfelte in einem Artikel der «Weltwoche», in dem der Autor Spiess-Hegglin vorwarf, Hürlimann «planmässig falsch beschuldigt» zu haben, um einen Ehebruch zu vertuschen. Die Zeitung wurde wegen übler Nachrede verurteilt.

Eine Frage der Ethik

Was die «Blick»-Berichterstattung betrifft, handelt es sich weniger um eine rechtliche als vielmehr um eine ethische Frage. Der «Blick» hätte zurückhaltender sein sollen, er hätte die beiden bis dahin national völlig unbekannten Politiker nicht mit voller Identität preisgeben sollen. Die Unschuldsvermutung hätte deutlicher gewürdigt werden müssen. Der Schaden für die Beteiligten wäre bedeutend kleiner gewesen.

Der Ringier-Anwalt zielte vor Gericht mit aller Kraft auf Spiess-Hegglin. Sie sei vielmehr Täterin als Opfer, habe ihre Geschichte «erfunden», einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht. Sie äussere sich weiter über die Affäre, obwohl es niemanden interessiere. Das zu sagen angesichts der über 200 Artikel, die der «Blick» über Spiess-Hegglin publiziert hat, ist verwerflich. Wenn Medien das Verhalten der Akteure (die Art, wie Spiess-Hegglin den Fall bis heute bewirtschaftet) zum Anlass nehmen, auf derselben Ebene zurückzuschiessen, dann haben sie ihre Funktion nicht verstanden.

Kein Wunder, pocht Jolanda Spiess-Hegglin auf ihr Recht. Viel besser wäre es, die Ringier-Verantwortlichen würden sich mit ihr an einen Tisch setzen und eingestehen, was die Zeitung hätte besser machen können.