Armenien und AserbaidschanEine historische Machtverschiebung – und was sie mit der Schweiz zu tun hat
Aserbaidschan hat einen Sondergesandten nach Bern geschickt. Seine Mission: die Schweiz auf die neue geopolitische Realität im Kaukasus vorzubereiten.
Sein Mitarbeiter stellt ihn als «seine Exzellenz» vor. Doch Elchin Amirbajow hat solche Formalitäten nicht nötig, rasch wechselt er zum «Du». Der aserbaidschanische Spitzendiplomat verströmt die selbstbewusste Gelassenheit eines Menschen, der weiss, dass sein Land auf der Gewinnerseite der Weltgeschichte steht.
Amirbajow ist als Sondergesandter von Staatschef Ilham Alijew aus Baku nach Bern gekommen. Seine Botschaft: Im Schatten des Ukraine-Kriegs ist im Südkaukasus eine Neuordnung mit geopolitischen Auswirkungen im Gang. Der Gewinner: Aserbaidschan. Die Verlierer: die Republik Armenien und die 120’000 Armenier im Gebiet Karabach.
Was diese Machtverschiebung für Folgen hat: Darüber will Elchin Amirbajow jetzt mit dem Schweizer Volk und seiner Regierung reden. Und darum hat er diese Zeitung in die aserbaidschanische Botschaft im Berner Kirchenfeldquartier eingeladen.
Anschliessend lässt er sich ins Bundeshaus West chauffieren zu vertraulichen Gesprächen im Aussendepartement (EDA), unter anderem mit dem stellvertretenden Staatssekretär Patric Franzen.
Ist der Frieden in Reichweite?
Amirbajow kennt die Schweiz gut: Von 2005 bis 2010 war er hier als Botschafter stationiert. Damals war Aserbaidschan in der Weltpolitik noch ein Underdog. Doch jetzt ist Amirbajow zurückgekommen als Vertreter eines Landes, das wirtschaftlich, politisch und militärisch einen spektakulären Aufstieg erlebt.
Auf die Frage, warum er gerade jetzt nach Bern komme, antwortet Amirbajow unter anderem, dass die Schweiz im Sicherheitsrat sitze und dort auch im Kaukasus-Dossier mitrede. Das bedeutet: Der Sondergesandte aus Baku lobbyiert im Bundeshaus. Er versucht, das EDA von Aserbaidschans Sicht auf den Kaukasus-Konflikt zu überzeugen.
Dass sein Land der Gewinner und die Armenier die Verlierer sind: Das sagt Amirbajow nicht so direkt, als er in der aserbaidschanischen Botschaft an seinem Çay, einem Tee, nippt. Statt von einem aserbaidschanischen Triumph über Armenien spricht er von einem Frieden, der beiden Seiten nützen werde.
Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sich das europäische Interesse am Kaukasus massiv verstärkt.
Tatsächlich: Nach über 30-jährigem Kriegszustand sind derzeit intensive Verhandlungen zwischen den beiden Erzfeinden im Gang. Am Sonntag kam es in Brüssel zu einem Gipfeltreffen zwischen Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew und Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan. Im Anschluss vermittelte Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, den Eindruck, ein Friedensabkommen sei in Reichweite. Die beiden Staatsoberhäupter hätten «den gemeinsamen Willen, den Südkaukasus in Frieden zu gestalten», sagte Michel.
Unterschriften für Armenier
Einen Anfang nahmen die Friedensgespräche in der Schweiz: Am 2. Oktober 2022 ermöglichte das EDA in Genf das erste bilaterale Treffen zwischen den beiden Aussenministern.
Die Schweiz pflegt zu beiden Ländern sehr spezielle Beziehungen. Jene zu den Armeniern ist weit über hundert Jahre alt und nicht zuletzt durch die gemeinsame christliche Tradition geprägt.
Als 1896 im Osmanischen Reich Tausende von christlichen Armeniern niedergemetzelt wurden, war die Solidarität in der Schweiz beispiellos. 454’291 Menschen unterzeichneten eine Petition, die den Bundesrat zu einer diplomatischen Intervention aufrief.
Schon im 19. Jahrhundert kämpften Exilarmenier aus der Schweiz heraus für einen eigenen Staat. Dafür gründeten sie in Genf Zeitungen und politische Parteien. Noch heute zählt die armenischstämmige Diaspora in der Schweiz rund 7000 Menschen. Viele von ihnen sind an ihren Familiennamen zu erkennen, die auf «ian» enden.
Erdölmilliarden aus Aserbaidschan
Die Beziehungen der Schweiz zu Aserbaidschan hingegen sind jung und primär durch Wirtschaftsinteressen getrieben. Die Handelsgesellschaft der staatlichen Erdölgesellschaft Socar hat ihren Sitz in der Schweiz und verdient hier Dutzende von Milliarden pro Jahr. Zudem betreibt Socar in der Schweiz rund 200 Tankstellen.
Sein Öl- und Gasreichtum macht Aserbaidschan auch immer interessanter für Schweizer Exportfirmen. Heute beläuft sich der bilaterale Handel auf eine halbe Milliarde Franken pro Jahr. «Doch das Potenzial ist viel grösser», glaubt Amirbajow.
Obwohl sie zu beiden Ländern enge Beziehungen hat, ist es nun aber nicht die Schweiz, die offiziell zwischen Armenien und Aserbaidschan vermittelt. Sondern die EU.
EU-Chefin auf Betteltour in Baku
Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sich das europäische Interesse am Kaukasus massiv verstärkt. Auf der verzweifelten Suche nach neuen Gaslieferanten reiste EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen höchstpersönlich im Juli 2022 nach Baku. Sie vereinbarte mit dem autokratischen Herrscher Ilham Alijew eine strategische Partnerschaft. Das Ziel: eine Verdoppelung der Erdgaslieferungen nach Europa.
Doch die Bedeutung von Aserbaidschan für Europa geht über die Energie hinaus. Elchin Amirbajow legt eine Karte auf den Salontisch, auf der drei Transportkorridore zwischen China und Europa eingezeichnet sind.
Der nördliche Korridor führt durch Russland: derzeit geschlossen. Der südliche Seekorridor durch den Suezkanal: zu lang. Damit verbleibe, so erläutert Amirbajow, ein mittlerer Korridor über das Kaspische Meer und Aserbaidschan. Aserbaidschan, das noch autokratischer regiert wird als Russland, ist einer der grossen Profiteure des Ukraine-Kriegs.
Nicht nur die EU, sondern auch die USA haben strategische Interessen im Kaukasus und versuchen darum, die Region zu stabilisieren. Anfang Mai verhandelten Delegationen beider Seiten vier Tage lang in Washington.
Amirbajow gibt sich zuversichtlich, dass diese Friedensgespräche zum Ziel führen: «Mit etwas politischem Willen auf beiden Seiten haben wir die Chance, etwas zu erreichen, was manche für unvorstellbar gehalten haben.»
Der 30-jährige Krieg
Seit ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1991 stehen die beiden Staaten faktisch im Kriegszustand. Abertausende Menschen sind gestorben, Hunderttausende Armenier wurden durch Pogrome vertrieben. Auch Aserbaidschan wirft Armenien vor, 250’000 Landsleute ins Exil getrieben zu haben.
Doch der Hauptstreitpunkt ist Karabach. Dieses Gebiet innerhalb der Staatsgrenzen von Aserbaidschan hat 1991 seine Unabhängigkeit erklärt. Heute leben dort rund 120’000 Armenierinnen und Armenier. Doch die sogenannte Republik Arzach ist international nicht anerkannt.
Den ersten Krieg um Karabach gewann 1994 Armenien und besetzte danach bedeutende Teile von Aserbaidschans Staatsgebiet. Doch Aserbaidschan konnte dank seiner Ölmilliarden massiv aufrüsten: Ende 2020 eroberte es die besetzten Gebiete zurück.
Seither ist Karabach nur noch durch den schmalen Latschin-Korridor mit Armenien verbunden. Der Waffenstillstand ist brüchig, ständig kommt es zu neuen Feuergefechten. Im Dezember spitzte sich die Situation weiter zu, als Aserbaidschan den Latschin-Korridor blockierte. Als im Februar der Internationale Gerichtshof ein Ende der Blockade verfügte, setzte sich Baku darüber hinweg.
Am gleichen Tag, an dem Elchin Amirbajow beim Çay über einen möglichen Frieden redet, veröffentlicht in Zürich Christian Solidarity International (CSI) einen scharfen Brief an Aussenminister Ignazio Cassis. Die Organisation, die sich für verfolgte Minderheiten einsetzt, beschreibt Aserbaidschans Vorgehen gegen Karabach als «Prozess der ethnischen und religiösen Säuberung». Den Bundesrat ruft CSI dazu auf, sich endlich entschiedener für die Karabach-Armenier einzusetzen, vor allem im UNO-Sicherheitsrat.
Was passiert mit Karabach?
Inzwischen hat Amirbajow seinen Tee ausgetrunken. Zeit für die Schlüsselfrage: Was würde ein Friedensabkommen für Karabach bedeuten?
Für Amirbajow ist der Fall klar: Karabach werde in Zukunft integraler Bestandteil von Aserbaidschan sein. Selbst eine Autonomie (so wie Karabach sie zu Zeiten der Sowjetunion genoss) könne es für Karabach nicht mehr geben. Aserbaidschan werde aber «die Reintegration der lokalen Bevölkerung von Karabach in der aserbaidschanischen Gesellschaft» ermöglichen und die Rechte der Karabach-Armenier wahren, versichert Amirbajow.
Nach dem Verlassen der Botschaft Anruf bei Sarkis Shahinian, dem Co-Präsidenten der Gesellschaft Schweiz-Armenien. «Falls Aserbaidschan dazu die Gelegenheit bekommt, wird es in Karabach eine ethnische Säuberung durchführen», sagt Shahinian. Solche Säuberungen habe Aserbaidschan in anderen Gebieten mehrfach durchgeführt.
Auch er wünsche sich Frieden, sagt Shahinian. «Ich fürchte aber, dass Premierminister Paschinjan die Karabach-Armenier im Rahmen der Friedensverhandlungen opfern wird.» Nach seiner Niederlage im zweiten Karabach-Krieg sei Armenien militärisch deutlich geschwächt und könne so gar nicht auf Augenhöhe mit Aserbaidschan verhandeln.
Aserbaidschans neues Selbstbewusstsein. Armeniens militärische Schwäche. Und der Westen, der wegen des Ukraine-Kriegs um jeden Preis Stabilität möchte. Das ist die neue Realität im Kaukasus.
Entsteht daraus ein echter Friede? Oder nur neues Unrecht?
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