Krimi der WocheEin Massaker in Managua
Sein neuester Kriminalroman «Tongolele konnte nicht tanzen» ist in Nicaragua verboten. Gegen den Autor, Cervantes-Preisträger Sergio Ramírez, wurde ein Haftbefehl erlassen.
Der erste Satz
Die Windböen bliesen in regelmässigen Abständen und beugten die schmalen Stämme der jungen Kiefern, die sich an die nackten Hänge des Cerro de La Campana, des Glockenbergs, klammerten.
Das Buch
Inspector Dolores Morales ist ein desillusionierter Ex-Guerillero, der in den Kämpfen gegen die Somoza-Diktatur in Nicaragua ein Bein verloren hat. Bei der Polizei wurde er später gefeuert, weil er unerbittlich den Finger auf die Korruption legte, die sich nach dem Sturz Somozas unter dem Regime von Daniel Ortega entwickelt hat. Morales war schon Protagonist zweier früherer Kriminalromane von Sergio Ramírez: «Der Himmel weint um mich» (2008; deutsch 2015) und «Niemand weint um mich» (2017; deutsch 2019). Letztes Jahr und jetzt auf Deutsch ist der Abschluss der Trilogie erschienen: «Tongolele konnte nicht tanzen».
Der inzwischen als Privatdetektiv aktive Morales ist von Geheimdienstchef Anastasio Prado, genannt Tongolele, soeben nach Honduras abgeschoben worden. Tongolele tat damit einem nicaraguanischen Oligarchen einen Gefallen, gegen den Morales belastendes Material gefunden hatte. Morales kommt über die grüne Grenze wieder ins Land und ist mithilfe regimekritischer Priester rasch zurück in Managua. Wo er Zeuge der brutalen Niederschlagung von Protesten von Regierungskritikern wird, bei der Hunderte von Menschen durch Paramilitärs und Polizisten erschossen werden.
Der Roman zeigt eindrücklich das soziale Elend in Nicaragua und den Zerfall der moralischen Werte der Machthaber.
Das ist 2018 tatsächlich geschehen. Ramírez spricht in seinem Roman Klartext über die Zustände in seinem Heimatland und über Ortegas despotisches Regime. Und Ramírez ist nicht irgendwer. 2017 ist er mit dem Cervantes-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten Preis für spanischsprachige Literatur, und er gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Lateinamerikas. Ramírez war aber auch einer der führenden Sandinisten, ein Weggefährte Ortegas. Er war Mitglied der fünfköpfigen Regierung nach dem Sturz der Diktatur 1979 und von 1984 bis 1990 Vizepräsident des Landes.
In seinem neuen Roman erzählt er poetisch und düster, aber auch mit beissendem Humor die Geschichte vom Niedergang von Tongolele, der Intrigen von Gegenspielern zum Opfer fällt. Er macht sich lustig über esoterische Verirrungen der Regierung, die auf der anderen Seite rücksichtslos zuschlägt. Monseñor Ortez etwa, der in seinem Radio gegen die «neue arrogante, prunksüchtige Klasse derer, die sich früher einmal Revolutionäre nannten» predigt, wird spitalreif geprügelt und dann dank der willfährigen katholischen Kirche auf einen bedeutungslosen Posten im Vatikan abgeschoben.
«Tongolele konnte nicht tanzen» zeigt eindrücklich das soziale Elend in Nicaragua und den Zerfall der moralischen und politischen Werte der Machthaber, die nur noch älter und korrupter werden. Ein spannender Roman über eine verratene Revolution.
Die Wertung
Originalität: ★★★★☆
Spannung: ★★★☆☆
Realismus: ★★★★★
Humor: ★★★☆☆
Gesamteindruck: ★★★★☆
Der Autor
Sergio Ramírez Mercado, geboren 1942 in Masatepe im nicaraguanischen Departamento Masaya, studierte an der Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua in León, wo er bei seiner Promotion in Rechtswissenschaften 1964 als bester Student ausgezeichnet wurde. Schon 1960 hatte er seine erste Kurzgeschichte veröffentlicht, 1963 ein erstes Buch mit Erzählungen. 1973 bis 1975 lebte er als Stipendiat des Künstlerprogramms Daad in Berlin. 2001 weilte er als Gastprofessor wieder in Berlin, nachdem er zuvor schon an der University of Maryland und anderen Universitäten in den USA gelehrt hatte.
Inzwischen hat er mehr als fünfzig Bücher veröffentlicht und gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas. Seine Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, viele sind auch auf Deutsch erhältlich, darunter etwa «Maskentanz», «Strafe Gottes» und «Niemand weint um mich». Den internationalen Durchbruch hatte er vor allem mit dem Roman «Margarita, wie schön ist das Meer», für den er 1998 mit dem mit 175’000 Dollar dotierten Alfaguara-Preis ausgezeichnet wurde. Dies ist nur eine seiner zahlreichen Auszeichnungen. 2017 erhielt er den vom spanischen Kulturministerium vergebenen Miguel-de-Cervantes-Preis für sein Lebenswerk.
Mindestens so bekannt wie als Autor wurde er auch als Politiker. Als Mitglied des FSLN und Initiator der Gruppe der Zwölf, eines Bündnisses von einem Dutzend führender nicaraguanischer Intellektueller, war er aktiv am Kampf gegen Diktator Anastasio Somoza beteiligt. Nach dem Sturz der Diktatur 1979 gehörte er der fünfköpfigen Regierungsjunta an. 1984 bis 1990 war er Vizepräsident in der Regierung von Daniel Ortega. Da er mit der Entwicklung von Ortegas Kurs nicht mehr einverstanden war, trat er aus der Partei aus und gründete die Bewegung der sandinistischen Erneuerung. 1996 zog er sich aus der Politik zurück und widmete sich wieder ganz der Literatur.
Vor den letzten Präsidentschaftswahlen im November 2021 liess Ortega zahlreiche Kritiker seines mittlerweile längst despotisch gewordenen Regimes verhaften. Auch gegen Ramírez, der sich nicht nur in seinem aktuellen Roman «Tongolele konnte nicht tanzen» gegen seinen früheren Weggefährten äusserte, wurde ein Haftbefehl erlassen. Er hielt sich da jedoch gerade in Costa Rica auf und kehrte dann nicht nach Nicaragua zurück. Zurzeit lebt er in der spanischen Hauptstadt Madrid.
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