Einzige Wahlurne der DeutschschweizEin L für Lula: In Zürich wählen Tausende Brasiliens Präsidenten
Brasilianerinnen und Brasilianer von weither sind für die Wahl in Zürich. Der linke Kandidat ist auf T-Shirts und Fahnen zu sehen. Bolsonaro-Fans zeigen ihre Unterstützung indirekt.
Seit vier Jahren ist Jair Bolsonaro Präsident von Brasilien. Diesen Sonntag soll sich nun im zweiten Wahlgang entscheiden, wer künftig regiert: Der rechte Bolsonaro oder sein linker Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva, im Volksmund Lula genannt und seines Zeichens Präsident von 2003 bis Januar 2011.
In der Zürcher Europaallee bildeten sich seit Sonntagmorgen lange Warteschlangen. In der Juventus-Schule steht nämlich das einzige Wahllokal der Deutschschweiz, daneben gibt es nur noch eine Urne in Genf. Die Schlange reichte am Sonntagmorgen von der Lagerstrasse zum Gustav-Gull-Platz und über die ganze Länge der Europaallee bis zur Sihlpost und dann wieder ums Eck auf die Lagerstrasse. Zeitweise schrumpfte die Warteschlange, doch es kamen weiter Menschen an.
Tausende aus der ganzen Schweiz reihten sich ein und warteten mehrere Stunden, um ihre Stimme abzugeben. Zum Beispiel die junge Familie aus Weesen am Walensee. Die Frau trägt ein Lula-Tuch um die Schultern und sagt: «In Brasilien würde ich mich das nicht getrauen. In der Schweiz haben wir zum Glück die Freiheit, unsere Meinung öffentlich kundzutun.» Sie geht von einem engen Rennen aus. So wie das Land mit über 200 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sei auch die brasilianische Community in der Schweiz gespalten.
Bolsonaro habe für die Oberklasse und Superreichen regiert, auf Kosten der Armen, sagt sie. Ihr Mann fügt an: «Die Regierung hat das Sozialsystem abgebaut. In Brasilien findet eine Verarmung der Gesellschaft statt.»
Viele Menschen würden aus Gründen der Moral und Religion Bolsonaro wählen. «Sie sind sich der politischen Fragen nicht bewusst, sondern entscheiden zum Beispiel danach, ob der Kandidat Abtreibungen unterstützt oder nicht.» Eine andere Frau aus der Schlange mischt sich ein: Sie sorgt sich um den Amazonas und den Regenwald. Die Abholzung müsse ein Ende finden, um Flora und Fauna zu retten. Bolsonaro habe daran aber kein Interesse.
«Lula? Ein Gauner»
Dem widersprechen einige Hundert Meter weiter hinten in der Schlange zwei junge Zürcherinnen, beide 23 und Doppelbürgerinnen. «Das Bruttoinlandprodukt ist gestiegen, seit Bolsonaro regiert», sagt die blonde Frau im brasilianischen Fussballtrikot und mit Bolsonaro-Kappe. Er habe die Wirtschaft und vor allem die Agrarkultur vorangetrieben sowie Strassen gebaut. Ihr Vater betreibe eine Farm und ein Transportunternehmen in Brasilien, darum gingen ihr diese Themen nahe.
Ähnliches gelte für die Abholzung: Luftaufnahmen würden zeigen, dass der Regenwald während Lulas Amtszeit viel schneller schrumpfte als in Bolsonaros vier Jahren.
Dabei habe Bolsonaro die Armen nicht benachteiligt, im Gegenteil, sagt die Zürcherin: Er habe massive Sozialprogramme gestartet, die Unterschicht bekomme mehr Geld vom Staat als damals unter Lula. Diesen verabscheut sie: «Ich stimme auf keinen Fall für einen Gauner, der Brasilien ausgeraubt hat.» Lula habe Landbesitzer enteignet und die Sozialisten in Kuba und Venezuela finanziell unterstützt, während die eigene Bevölkerung Hunger litt. «Da ist mir der streng patriotische Bolsonaro lieber. Er wirft das Geld nicht mit beiden Händen aus dem Fenster.»
Viele Lula-Shirts – noch mehr Brasilien-Flaggen
Darüber kann ein Mann aus Buchs im Zürcher Unterland nur den Kopf schütteln. «Ich habe vor vier Jahren auch Bolsonaro gewählt. Weil er versprach, dass alles besser wird. Erreicht hat er aber nicht viel», sagt der Mann mittleren Alters. In Brasilien müsse «alles» besser werden, die Baustellen seien überall: Armut, Wirtschaft, Kriminalität, Korruption. Darum wähle er jetzt Lula.
Im ersten Wahlgang am 2. Oktober mussten die Brasilianerinnen und Brasilianer teilweise über vier Stunden lang warten, bis sie an der Reihe waren. Dieses Mal kamen die Wartenden deutlich schneller voran. Während der aufgeheizte Wahlkampf in Brasilien zu Gewaltausbrüchen führte, herrschte in Zürich weitgehend gute Stimmung: Leute machten Videos für die sozialen Medien, und ein fliegender Händler verkaufte brasilianischen Fingerfood. Zählte man die T-Shirts, Kappen und Pins, zeigten mehr Leute ihre Unterstützung für Lula. Noch häufiger zu sehen waren allerdings Brasilien-Fahnen und die Fussballtrikots der «Seleção» – wobei diese offenbar häufig von Bolsonaro-Unterstützerinnen und -unterstützern getragen werden.
Die Urnen schliessen offiziell um 17 Uhr. Wer bis zu diesem Zeitpunkt in der Schlange steht, soll nach offiziellen Angaben ein Passwort erhalten, um seine Stimme doch noch abgeben zu können – so lange sollen die Urnen offen bleiben. Gemäss einer Zürcher Aktivistin und Lula-Unterstützerin erhielt der linke Kandidat im ersten Wahlgang rund 2800 Stimmen in Zürich sowie Genf und damit 500 mehr als Bolsonaro.
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