Reportage aus La Chaux-de-Fonds«Ein Gewitter mit unvorstellbarer Gewalt»
Eingedrückte Dächer, umgestürzte Kräne und Hunderte zerstörte Gebäude: Über La Chaux-de-Fonds ist der Sturm mit bis zu 217 km/h gefegt. Anwohnende berichten, wie sie das gewaltige Unwetter erlebt haben.
«Ich dachte, ich sei in einer anderen Realität.» Gewerkschafterin Yasmina Produit sass in ihrem Büro am Bahnhofplatz in La Chaux-de-Fonds, als kurz vor Mittag ein Sturm über die Stadt fegte. Der Wind bekam plötzlich eine extreme Kraft. Es brauste und donnerte in der Stadt. Der Sturm war derart heftig, dass beim Bahnhof ein grosser Kran zu schwanken begann und mit vollem Gewicht auf zwei Autos stürzte. Eine Person verlor dabei ihr Leben. «Alles ging unglaublich schnell», sagt Produit.
«Solche Szenen sind wir hier nicht gewohnt.»
Einige Stunden nach dem Drama zählt Yasmina Produit eine lange Liste von Schäden auf, die der Sturm in der Stadt angerichtet hat. «Dort ist der Kirchturm in sich zusammengefallen», sagt sie und zeigt auf ihren Computerbildschirm. Auch die Züge würden nicht mehr fahren, Blech liege auf den Schienen. Am Rand der Bahngleise befinde sich ein zerstörtes Gebäude und Masten seien umgestürzt. «Solche Szenen sind wir hier nicht gewohnt», sagt die Frau aus La Chaux-de-Fonds. Für sie ist klar: Was in den Tropen regelmässig geschehe, könne sich im Zuge des Klimawandels auch in der Schweiz öfter ereignen.
«Mehrere Tausend Gebäude sind von den Zerstörungen betroffen.»
Der Sturm hat die gesamte Region in den Neuenburger Bergen schwer getroffen. Jean-Daniel Jeanneret, der Stadtpräsident von La Chaux-de-Fonds, bilanzierte gegen Abend: «Mehrere Tausend Gebäude sind betroffen.» Der Sturm werde in La Chaux-de-Fonds unauslöschliche Spuren hinterlassen.
Schaulustige und zitternde Scheiben
Die Neuenburger Polizei, bei der im Lauf des Tages über tausend Anrufe eingingen, hat rund 40 Verletzte registriert. Feuerwehr und Sanitäter mussten zu rund 100 Einsätzen ausrücken. Das Gebiet um den Bahnhof von La Chaux-de-Fonds war am Montagnachmittag teilweise abgeriegelt. Der Bahnverkehr musste am Bahnhof La Chaux-de-Fonds sowie in Richtung St-Imier BE, Les Hauts-Geneveys NE und Le Locle NE unterbrochen werden. Die Reparaturarbeiten dauern laut den SBB mehrere Tage.
In der Stadt war die Stimmung am Montagnachmittag angespannt. Feuerwehrmänner und Polizisten mussten Schaulustige zurückhalten, die in die abgesperrten Bereiche eindringen wollten.
Der Sturm hat auch das Gebäude beschädigt, in dem Yasmina Produit arbeitet. Das Isolierblech an der Fassade wurde über mehrere Stockwerke hinweg wie Zigarettenpapier zerrissen und weggewindet. Produit sagt: «Zu spüren, wie die Fensterscheiben zitterten, war wirklich beeindruckend.»
Eingedrückte Dächer, gesperrte Strassen
Gross waren die Schäden auch bei der grossen Einkaufsstrasse im Zentrum, der Avenue Léopold-Robert. Entlang des Boulevards lagen zerbrochene Schaufenster. Der Boden war übersät mit Ziegeln, Ästen, Glassplittern und verbogenem Blech. Dazu waren Dächer eingedrückt worden. In der Stadt mussten zahlreiche Strassen gesperrt werden.
An die ersten Momente des Sturms erinnert sich Yasmina Produit genau. «Das Gewitter brach gegen 11.30 Uhr mit unvorstellbarer Gewalt los. Man sah viele Blitze über dem Bergrücken, und dann war plötzlich alles von Wolken verschlungen. Alle waren völlig überrascht», beschreibt sie, was sie beobachtete. Ein Mann aus der Ortschaft Courtételle im Jura bestätigt, dass der Himmel augenblicklich schwarz wurde: «Plötzlich konnte man überhaupt nichts mehr sehen.»
Alles kam geflogen
Die Bewohner der Stadt berichten, der Wind, dessen Spitzen 217 km/h erreichten, habe den Regen horizontal in «Richtung der Stadt» geblasen. Alles sei durch die Stadt geflogen: Dachziegel, Terrassenstühle und sogar Velos und Motorräder. «Das dauerte ein paar Minuten», erinnert sich eine Kosmetikerin, die in der Stadt arbeitet.
Alain Cuenat betreibt in der Stadt ein Fitnessstudio. Er ist mit den starken Winden des Atlantischen Ozeans vertraut und verliess das Gebäude für ein paar Sekunden, um die Böen zu filmen, die vor seinem Fitnessstudio hereinbrachen. «Als eine Blechplatte vor mir durchflog, war mir rasch klar, dass es besser war, drinnen zu bleiben», sagt der passionierte Kitesurfer.
Als schliesslich Ziegel von den Dächern fielen, begann auch Cuenat, sich zu fürchten. Einige Ziegel landeten direkt auf den Fenstersimsen des Kursraums. Zwei Fenster wurden durch herumfliegende Teile zerstört. An anderen Gebäuden wurden ganze Dächer und Dachstühle eingedrückt. Der Fitnessstudiobetreiber sah sich gezwungen, den Unterricht für den Rest des Tages ausfallen zu lassen.
«Erschüttert», «schockiert» und «verwirrt»: So beschreiben die Chaux-de-Fonniers ihre Gefühle. Trotz der grossen Zerstörungen waren sie sich am Montagnachmittag aber einig, dass die Folgen weitaus schlimmer hätten sein können. Denn der Sturm kam zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Geschäfte wegen der Sommerpause geschlossen sind.
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