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Kreml gegen Menschenrechtler
Ein doppelter Störfaktor für Präsident Putin

Staatlicher Angriff auf eine wichtige Menschenrechtsorganisation: Ilja Nowikow (Mitte), einer der Memorial-Anwälte, spricht zu den Medien nach dem Gerichtstermin in Moskau.
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Sie warten vor dem Gerichtsgebäude, bei Eiseskälte, weil mal wieder niemand in den Saal gelassen wird, weder Unterstützer noch Journalisten. Das Moskauer Stadtgericht begründet seine Verschlossenheit mit Corona, dem Staatsanwalt dürfte sie gelegen kommen. Er möchte Memorial auflösen, die wichtigste Menschenrechtsorganisation Russlands. Schon der Antrag löste Entsetzen im Land und Proteste in Europa aus.

Der Gerichtstermin dauerte keine Stunde. Was dann nach aussen drang, liess die Staatsanwaltschaft nicht gut aussehen, beispielsweise war ein Gutachten offenbar aus dem Internet abgeschrieben worden. Der Richter vertagte die Anhörung, was wenig heisst. Selten entscheiden russische Gerichte gegen die Behörden.

Memorial musste schon viele Angriffe überstehen, dieser aber hat eine neue Qualität. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft Memorial vor, wiederholt gegen Regeln verstossen zu haben, an die sich «ausländische Agenten» in Russland halten müssen. Das ist schon deswegen zynisch, weil der Begriff des Auslandsagenten nur geschaffen wurde, um Organisationen wie Memorial einzuschränken oder notfalls abzuschaffen. (Lesen Sie auch den Artikel «Putin verteidigt Gesetz gegen ausländische Agenten».)

Memorial arbeitet das Unrecht in der UdSSR auf und prangert auch Verstösse gegen Menschenrechte im heutigen Russland an.

Immer mehr Medien, Menschenrechtler und zivilgesellschaftliche Gruppen werden als Agenten gebrandmarkt und müssen dann nahezu unerfüllbare Auflagen einhalten, die sich zudem ständig ändern.

Memorial trifft es mit gleich zwei Verfahren, die beide diese Woche beginnen. Sie betreffen die beiden wichtigsten Einheiten von Memorial: das Menschenrechtszentrum, um das es am heutigen Dienstag ging, und den internationalen Dachverband. Das Verfahren gegen ihn beginnt am Donnerstag.

«Memorial ist zur Abschreckung ausgewählt worden», sagte Irina Scherbakowa, Gründungs- und Führungsmitglied der Menschenrechtsorganisation, vor dem Gerichtstermin. Wenn schon «eine so alte und anerkannte Organisation auf diese Weise liquidiert werden kann», sagt sie, dann könne sich niemand sicher fühlen.

Der Kreml hat eigene Deutung der Geschichte

Seit Jahrzehnten gilt Memorial nicht nur als Rückgrat der russischen Menschenrechtsszene, sondern auch als doppelter Störfaktor für Präsident Wladimir Putin. Denn Memorial hat zwei Ziele: Die Organisation arbeitet das Unrecht auf, das Millionen Menschen in der Sowjetunion widerfahren ist – in einer Zeit also, die der Kreml und eine Mehrheit der Russen heute gern verklären. Zweitens prangert die Organisation Menschenrechtsverletzungen im heutigen Russland an.

Seit den 1980er-Jahren hat der Kreml den Druck auf Memorial ständig erhöht. Damals gründete eine Gruppe früherer Dissidenten, unter ihnen Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, die Organisation mit dem Ziel, ein Denkmal für die Opfer Josef Stalins in Moskau aufzustellen.

Seither arbeitetet Memorial die Geschichten dieser Opfer auf, gibt ihnen einen Namen, informiert Nachfahren über ihr Schicksal, öffnet Massengräber, spricht über den kommunistischen Terror.

«Memorial ist zur Abschreckung ausgewählt worden»: Irina Scherbakowa, Historikerin und Leitungsmitglied der Menschenrechtsorganisation.

Der Kreml aber geht mit seiner Geschichtsumdeutung den umgekehrten Weg. Für ihn zählen allein die Errungenschaften der Sowjetzeit, die wichtigste ist der Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Der Stolz darauf verbindet das russische Volk wie kaum ein anderes Gefühl, Putin weiss das politisch zu nutzen.

Der Kreml erinnert an Stalin vor allem als Bezwinger des Nationalsozialismus, für Kritik bleibt da kein Raum, weder an Stalins Verbrechen am eigenen Volk noch an seinem Pakt mit Hitler 1939. Wer dieses Geschichtsbild angreift, gilt als unpatriotisch.

Mitarbeiter von Memorial werden immer wieder in fragwürdigen Prozessen verurteilt.

«Die Vergangenheit wird dazu benutzt, einen Mythos zu erschaffen, der zur Staatsideologie werden soll», sagt Scherbakowa. «Natürlich stehen wir da im Weg.» Ähnliches gilt für das Menschenrechtszentrum, das alle unterstützt, die in Russland wegen ihrer politischen Ansichten, Religion oder sexuellen Orientierung verfolgt werden. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft zusätzlich vor, «terroristische und extremistische» Gruppen unterstützt zu haben.

Immer wieder werden auch Mitarbeiter von Memorial aus politischen Gründen vor Gericht gestellt: Dem Menschenrechtler Ojub Titijew in Tschetschenien schob man Drogen unter, um ihn einzusperren. Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew in Karelien warf man Missbrauch einer Minderjährigen vor, um nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Ruf zu zerstören. Er hatte zuvor Massengräber aus den 1930er-Jahren entdeckt.

Das Moskauer Büro ist häufig angegriffen worden, zuletzt Mitte Oktober während einer Filmvorführung. Etwa 40 maskierte Männer stürmten ins Haus, schrien «Schande!» und «Nieder mit dem Faschismus!», das Staatsfernsehen begleitete ihren Auftritt. «Das war nicht willkürlich oder spontan, das war orchestriert», sagt Scherbakowa, die anwesend war.

Später liessen Polizei und Geheimdienst die Angreifer laufen und hielten ihre Opfer fest. Sie befragten Scherbakowa und andere Memorial-Mitarbeiter bis spät in die Nacht. Ihre Anwälte stiegen irgendwann durchs Fenster, um ihnen zu helfen, denn die Flügel der Eingangstür hatte die Polizei mit Handschellen verschlossen. Das Bild steht nun symbolisch für die Geiselhaft, in die Memorial geraten ist.

Scherbakowa formuliert es so: «Der Kreml sendet nicht nur ein Signal nach innen, sondern auch in den Westen, vor allem nach Deutschland.» Dort ist die Zusammenarbeit besonders eng, Memorial beteiligt sich an Projekten in KZ-Gedenkstätten, kooperiert mit Museen und historistischen Organisationen.

Egal, wie sehr Europa Memorial unterstütze, «egal, wie sehr ihr schreit», erklärt Scherbakowa die Botschaft des Kreml, «das ist unsere Geisel, wir können mit ihr machen, was wir wollen». Die Historikerin hofft, dass sich Europa davon nicht abschrecken lässt.