Umstrittener Prozess in RusslandDer Stalin-Forscher, der selber in der Zelle sitzt
Der russische Historiker Juri Dmitrijew forscht zu Massenhinrichtungen unter Stalin. Der Staatsanwalt wirft ihm vor, seine Adoptivtochter missbraucht zu haben, und verlangt 15 Jahre Haft.
Er bekam nur eine kurze Atempause nach dem Freispruch vor zwei Jahren. Damals erinnerte sich Juri Dmitrijew an die 13 Monate im Untersuchungsgefängnis von Petrosawodsk, als lägen sie für immer hinter ihm. «Ich weiss sehr viel über dieses Gefängnis», erzählte er in einem Interview. Er kannte sogar die Schicksale einzelner Gefangener, die Ende der Dreissigerjahre «durch diese Korridore gingen, in diesen Zellen gehalten wurden, auch in der Zelle, in der ich sass».
Nun sitzt er selbst wieder. Nach dem Freispruch im April ist er im Juni 2018 gleich wieder festgenommen worden. Das Urteil des Stadtgerichts von Petrosawodsk wurde aufgehoben. Die Vorwürfe wiegen dieses Mal noch schwerer, der Staatsanwalt fordert 15 Jahre Straflager. Juri Dmitrijew werden «gewaltsame sexuelle Handlungen» gegenüber seiner minderjährigen Adoptivtochter vorgeworfen. Im Verfahren zuvor ging es noch um angeblich pornografische Fotografien von dem Mädchen.
Tausende namenlose Opfer identifiziert
Dmitrijew bestreitet alle Vorwürfe. Diese zielten eindeutig darauf ab, nicht nur seinen Ruf zu zerstören, sagt die Menschenrechtsorganisation Memorial, für die er arbeitet. Sie sollten auch seine Arbeit der letzten Jahrzehnte diskreditieren, in denen er Repressionen und Massenhinrichtungen unter Josef Stalin erforscht hat.
Juri Dmitrijew war es, der vor 23 Jahren Massengräber im Wald von Sandarmoch entdeckte. Die Opfer waren in den Jahren 1937 und 1938 hingerichtet worden. 7000 von ihnen konnte Dmitrijew laut Memorial in den folgenden Jahren identifizieren. Er dokumentiere ihre Geschichte, recherchierte ihre Herkunft.
Während er in Haft sass, erhielt Dmitrijew weiterhin Preise für sein Engagement.
Sie sind Opfer einer Gewaltherrschaft, die in Russland heute gerne verdrängt oder verklärt wird. 70 Prozent der russischen Bevölkerung bewerten Stalins Rolle für Russland positiv, ergab vergangenes Jahr eine Lewada-Umfrage. Seit die russische Regierung Memorial zum «Ausländischen Agenten» erklärt und damit quasi geächtet hat, landeten mehrere Mitarbeiter wegen zweifelhafter Anschuldigungen vor Gericht.
Juri Dmitrijew war womöglich besonders unbequem: Er organisierte in Sandarmoch jährlich Gedenkveranstaltungen, zu denen auch viele internationale Gäste kamen. Noch während er in Haft sass, veröffentlichte Juri Dmitrijew weiterhin Bücher, erhielt Preise für sein Engagement.
Teile eines Jagdgewehrs gefunden
Bis heute ist nicht öffentlich, wer den Ermittlern Ende 2016 jenen Brief mit den Fotos schickte. Sie zeigten Dmitrijews damals elfjährige Pflegetochter ohne Kleidung. Die Ermittler durchsuchen daraufhin seine Wohnung. Tatsächlich hatte der Historiker das Mädchen fotografiert, nach eigener Aussage, um für das Jugendamt zu dokumentieren, dass es ihr gut bei ihm geht. Er hatte das Mädchen als Kleinkind unterernährt aus einem Heim geholt.
Mehrere Experten konnten während des Gerichtsverfahrens nichts Pornografisches an den Bildern erkennen. Gutachter befragen das Mädchen, stellen kein auffälliges Verhalten fest. Auch Dmitrijew wurde mehrfach psychologisch untersucht, stets mit dem Ergebnis, dass er nicht pädophil ist. Im April 2018 wird er dann lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt. Die Ermittler hatten bei einer Hausdurchsuchung Teile eines Jagdgewehrs bei ihm gefunden.
«Er hofft immer noch auf Gerechtigkeit.»
Seine Adoptivtochter hat er seither nicht wiedergesehen. Sie lebt inzwischen bei ihrer leiblichen Grossmutter, die jeden Kontakt des Mädchens zu früheren Freunden und Verwandten verbietet. Weil es um eine Minderjährige geht, ist die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen.
Im April sagte der Anwalt von Dmitrijew, sein Mandant sei sehr belastbar. «Er hat die Ergebnisse des Grossen Terrors in seinen Händen gehalten und mit eigenen Augen gesehen. Er hat viel gesehen.» Weil er die Geschichte so gut kenne, habe er keine Illusionen über das Land, in dem er lebe. «Aber er hofft immer noch auf Gerechtigkeit.»
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