Kolumne «Miniatur des Alltags»«Du, ähm, Sie …»
Wen darf man heute alles duzen und wen auf keinen Fall? Die Regeln sind schwammig, die Gefühle heftig.
«Die Jungen haben keinen Anstand mehr. Ja, die wissen sich nicht zu benehmen. Keine Manieren, kein Respekt.» Ungefähr so wurde ich letztens angepöbelt, als ich einen älteren Mann im Zug aus Versehen geduzt hatte. Auf sein Gezeter hin reagierte ich verdattert und entschuldigte mich beschämt. Kurz danach aber erfüllten mich seine verallgemeinernden Aussagen mit Wut. Und schliesslich stimmte mich die Interaktion nachdenklich. Wie konnte etwas so Unscheinbares wie eine «falsche» Anrede eine solche Reaktion hervorrufen?
Fremde Erwachsene siezt man, Kinder, Freunde und Bekannte darf man duzen – so wurde es mir von klein auf eingetrichtert. Seit dem 19. Jahrhundert findet aber eine zunehmende sprachliche Informalisierung statt. Heisst: Das «Du» weitet sich stetig aus, und Familienanreden und Titel verlieren immer mehr an gesellschaftlicher Bedeutung. Besonders soziale Bewegungen wie zum Beispiel die 68er-Bewegung treiben die Sprachentwicklung voran. Siezten sich in der Schweiz Anfang der 70er-Jahre noch die meisten Studierenden untereinander, ist das «Du» drei bis vier Jahre später bereits weitverbreitet. Und heute duze ich sogar einen Grossteil meiner Professoren.
Wenn ich nun über den Mann im Zug nachdenke, steckt wohl primär ein unterschiedliches Verständnis von Siezen hinter seinem Ärger. Was in meinen Augen nichts weiter als ein kleiner sprachlicher Ausrutscher war, fasste der Mann, der in einer Zeit aufwuchs, in der das Siezen noch viel stärker mit Respekt zu tun hatte als heute, als eine persönliche Beleidigung auf. Ich finde zwar nicht, dass das seine heftige Reaktion vollständig rechtfertigt. Eine mögliche Erklärung bietet es jedoch.
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