Drahtzieher des TerroranschlagsWas ist dran an der russischen Spur in die Ukraine?
Washington zeigt nach dem Angriff auf den IS, Russland beschuldigt dagegen Kiew. Der Verdacht wird von der Ukraine als «absurd» bestritten. Doch immerhin kämpfen auch Kaukasier an der Seite der ukrainischen Armee.
Nach dem Terroranschlag auf das Rockkonzert in der «Crocus City Hall» am Rande von Moskau deuten viele Spuren auf das weltweite Terrornetzwerk «Islamischer Staat» (IS) und vor allem auf seinen afghanischen Ableger IS-K. Aber der IS selbst übernimmt die Verantwortung bisher nur in vager Form. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hingegen beschuldigt die Ukraine als Hintermann des Terrorakts. Möglicherweise in Zusammenarbeit mit einem oder mehreren Ablegern des IS – aber eben doch als Drahtzieher.
Der Verdacht wird von Kiew als «absurd» bestritten und Washington zeigt weiter auf den IS. Der «Islamische Staat in Khorasan» mag seine Basis in den unzugänglichen Bergen Afghanistans haben. Aber in seinen Reihen kämpfen russische Dschihadis. Die meisten stammen aus dem Kaukasus. Es gibt auch einen eigenen kaukasischen Ableger der Terrorgruppe: «Der Islamische Staat in der Provinz Kaukasus.» Obwohl dieser kaukasische IS-Ableger kaum bekannt ist, käme auch er als Täter in Frage: Viele kaukasische Muslime hassen Russlands Präsident Wladimir Putin wegen seiner Tschetschenien-Kriege. Und kaukasisch-muslimische Kämpfer haben sich der ukrainischen Armee als Freiwillige angeschlossen im laufenden Krieg gegen Russland. Insofern gibt es durchaus eine informelle Verbindung des IS-K nach Kiew.
Mitte der Neunziger und Anfang der Zweitausender Jahre hatte der damals neue Präsident Putin den Wunsch der Tschetschenen nach nationaler Selbstbestimmung niedergeschlagen. Seine Soldaten verwüsteten die Kaukasus-Republik, der FSB beging unfassbare Menschenrechtsverletzungen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Blick auf die Ukraine nicht von vorneherein unsinnig. Im Krieg gegen die russischen Angriffskrieger kämpfen «Legionen» kaukasisch-muslimischer und russischer Freiwilliger an der Seite der ukrainischen Armee. Es sollen Hunderte sein.
Manche setzen ihren verlorenen Krieg in der Ukraine fort
Diese Männer kommen aus zu Russland gehörenden Kaukasus-Gebieten wie Tschetschenien, Inguschetien oder Dagestan. Viele haben in Tschetschenien gegen die Russen gekämpft und unterhalten engste Verbindungen zum IS: Sie waren nach dem Tschetschenien-Krieg aus Russland geflohen und waren dann in den Kriegen und Aufständen in der Arabischen Welt Teil des IS-Terrornetzwerks geworden. Das Handwerkszeug hatten sie mitgebracht. Ein Kennzeichen des Kampfs der kaukasischen Rebellen in Tschetschenien waren Terrorakte in Krankenhäusern, Schulen oder ähnlichen Einrichtungen.
Die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002, wo das Musical «Nord-Ost» lief, endete mit mehr als 170 Toten. 2004 folgte der Überfall auf eine Schule im kaukasisch-russischen Beslan. Auch hier hatte der russische Inlandsgeheimdienst FSB die Schule ohne Rücksicht auf die Geiseln gestürmt: Mehr als 345 Menschen starben.
Zwei Jahrzehnte später setzen solche Anti-Putin-Kämpfer aus dem Kaukasus ihren verlorenen Krieg in der Ukraine fort. Sie bekriegen in den Ebenen Osteuropas das «russische Imperium» als «koloniale Vormacht im Kaukasus». Viele hatten sich bereits im Tschetschenien-Krieg islamistisch radikalisiert, kämpften später in Syrien gegen das mit Moskau verbündete Assad-Regime. In dieser Zeit schlossen sie sich oft dem IS an.
Der Westen gilt für den IS-K ebenso als Ziel
Das Terrornetzwerk hatte 2015 in Syrien und Irak sein «Kalifat» ausgerufen. Das Fanatiker-Regime, das mit brutalsten Methoden über acht Millionen Menschen herrschte, wurde 2019 von einer internationalen Koalition unter US-Führung zerschlagen. Viele IS-Kämpfer sind bis heute aber als Schläfer in Syrien und im Irak. Andere sind nach Afrika gegangen, wo der IS in der Sahelzone und in Nigeria die Menschen terrorisiert. Wieder andere zog es nach Afghanistan. Am Hindukusch kämpfen sie gegen die Taliban, die ihnen nicht radikal genug sind.
Diese Militanten nennen sich Islamischer Staat in Khorasan (IS-K): Khorasan ist eine sunnitische Region aus der islamischen Frühzeit. Sie umfasst das heutige Afghanistan, Iran und zentralasiatische Staaten wie Tadschikistan und Usbekistan. Selbst die alles andere als zimperlichen Taliban schaffen es nicht, den IS-K zu zerschlagen: Er begeht in Afghanistan bis heute Attentate. So sprengte er beim Abzug der US-Truppen 2021 weit über 100 Menschen am Kabuler Flughafen in die Luft, darunter 13 US-Marines.
Der IS-K schlägt aber nicht nur in Afghanistan und in den Nachbarstaaten Iran und Pakistan zu: Der Westen gilt ebenso als Ziel. US-Geheimdienste warnen, der IS-K könne in den USA oder Europa Terrorakte begehen. Eine Zelle des IS-K, die 2021 in Nordrhein-Westfalen aufgeflogen war, soll von Afghanistan aus gesteuert worden sein.
Putin tat eine Warnung als «Destabilisierungsversuch» ab
Auch Russland wäre ein naheliegendes Ziel für den IS-K. Die US-Geheimdienste sollen den Kreml vor dem jüngsten Moskauer Attentat gewarnt haben. Solche Zurufe gehören trotz aller amerikanisch-russischen Gegnerschaft zur gemeinsamen «Vorwarn-Politik». Putin soll die Warnung aber als «Destabilisierungsversuch» abgetan haben. Das verwundert, weil Anfang März angeblich ein anderer Angriffsplan vom FSB verhindert wurde: Demnach hatte der IS-K einen Anschlag auf eine Moskauer Synagoge geplant.
Ein Terroranschlag gegen ein jüdisches Ziel würde ins IS-Profil passen; ein Angriff auf eine Synagoge hätte dem IS-K vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs Sympathie unter radikalen Muslimen weltweit verschafft. Auch der Angriff auf das Moskauer Rockkonzert kann auf Zustimmung bei radikalen Muslimen hoffen: Moskau gilt seit dem Afghanistan-Krieg 1979 bis 1988 als «Satan» und die Rolle Putins in Syrien ist nicht vergessen. Ein Angriff auf ein Rockkonzert erinnert zudem an den Pariser Anschlag auf den Musik-Club «Bataclan». Auch für diesen Terrorakt mit seinen 130 Todesopfern im Jahr 2015 trägt der Islamische Staat Verantwortung.
Dass die ukrainischen Geheimdienste sich das spezielle Terror-Mindset kaukasischer Radikaler aus dem IS-Netzwerk zu Nutzen gemacht haben könnten, um Putin wenige Tage nach seiner erneuten Scheinwahl zum Präsidenten vor den Russen und der ganzen Welt blosszustellen, ist zunächst mal nicht mehr als eine Spekulation – aber eine, die durchaus Sinn ergeben könnte.
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