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Meinung

Faszination Pickelvideos
«Ich wünschte, sie würden stärker ranzoomen»

Nahaufnahme eines jungen Mannes im Badezimmer vor einem Spiegel, der einen Pickel im Gesicht ausdrückt.
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Kürzlich stiess ich in der «New York Times» auf ein ungewöhnliches Jobprofil: Pickelausdrückerin. Man kann damit reich und berühmt werden. Sandra Lee ist eine Dermatologin aus Los Angeles und bekannt als «Dr. Pimple Popper». 17 Millionen Menschen folgen ihrem gleichnamigen Tiktok-Kanal, auf Youtube sind es fast 9 Millionen.

Vor laufender Kamera entfernt sie ihren Patientinnen und Patienten Mitesser und Zysten, quetscht Fettgeschwulste aus und behandelt andere Hautkrankheiten (der Deal: Gratisbehandlung gegen Videoaufnahme). Demnächst startet im Privatfernsehen die zehnte Staffel ihrer Reality-Doku-Show. Den Durchbruch schaffte Dr. Lee übrigens mit dem Clip «Riesiger Mitesser, entfernt bei einer 85-Jährigen in Begleitung ihrer Tochter» – über 77 Millionen Aufrufe.

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Was in dem Video zu sehen ist, erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Genauer: Muss es Ihnen ersparen, denn niemals würde ich mir freiwillig abstossende Filmchen anschauen. Aber mit dieser Haltung bin ich offensichtlich allein. Aknevideos sind beliebt im Netz; Dr. Lee ist vielleicht die Bekannteste, aber längst nicht die Einzige, die eitrige Ekel-Clips hochlädt.

Pickelvideos faszinieren wegen «sicherer Bedrohung»

«Popaholics» (von engl. «pop» für «ausdrücken») nennen sich die Fans von Dr. Lee. Kommentar eines Youtube-Nutzers: «Ich liebe die Videos. Ich wünschte nur, sie würden stärker ranzoomen.» Eine andere Anhängerin: «Dr. Lee beim Leute-Vernähen zuzusehen, ist wie Ballett … es senkt meinen Blutdruck!»

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Was ist es, was daran so fasziniert? Warum hinterlässt es bei vielen ein befriedigendes Gefühl, zuzuschauen, wie die Hautunreinheiten wildfremder Menschen behandelt werden?

Einige Deutungen verweisen auf unser Bedürfnis nach Kontrolle und Ordnung. Pickel ausgedrückt, Sache erledigt – wo sonst lösen sich Probleme so schnell? Ausserdem ist es wunderbar eskapistisch, sich angesichts der düsteren Grosswetterlage verstopften Talgdrüsen zu widmen.

Die häufigste Erklärung aber ist das Phänomen der «sicheren Bedrohung»: Ein eitriger Mitesser symbolisiert Krankheit und Schmerz – unser Körper schaltet in den Erregungszustand. Gleichzeitig wissen wir, dass nichts passieren kann: Ist ja alles nur auf dem Bildschirm. Wir können den Nervenkitzel also auskosten. So gesehen ist ein Pickelvideo nichts anderes als ein Zombie-Film oder ein «Tatort»: dosierte Erregung, die Spass macht.

«Gutartigen Masochismus» nannte der amerikanische Kulturpsychologe Paul Rozin vernunftwidrige Vergnügen wie lustvolles Pickelausdrücken oder scharfes, im Mund brennendes Essen oder zum Weinen traurige Filme. Die Hintergründe dieses Phänomens sind noch nicht abschliessend erforscht.

Gutartiger Masochismus hilft Menschen bei der Selbstregulation, wie eine neuere deutsche Studie nahelegt. Darin konnten die Probanden Videos auswählen, darunter solche mit Szenen von Schluchzen, Prügel oder Erbrechen. Die Erkenntnis: Im Gegensatz zum «Sensation Seeker», also dem Adrenalinjunkie, der nach möglichst intensiven Eindrücken strebt, sucht der gutartige Masochist vor allem abstossende Erlebnisse, um sich danach gut zu fühlen.

Und er scheint ein Stubenhocker-Abenteurer zu sein: Der gutartige Masochist habe Vergnügen an Beobachten von potenzieller Bedrohung, doch ob er sich aktiv in solche Situationen begeben würde, sei dahingestellt, so die Studienautorinnen. In unserem Fall hiesse das wohl für die meisten: Einem Mitmenschen einen echten, nässenden Riesenpickel ausdrücken? Eklig.

In dieser Kolumne denken unsere Autorinnen und Autoren jede Woche über das gute Leben nach.