Analyse zu «Deutschland sucht den Superstar» Dieter, komm zurück!
DSDS, früher die Show mit dem speziellen Fiesling-Image, ist auf Kuschelkurs, seit Florian Silbereisen den Ton angibt. Warum das keine gute Idee ist.
Vor einigen Wochen ereignete sich eine Tragödie im Privatfernsehen. Sie hiess Melanie. Melanie tauchte in der ersten Folge der neuen Staffel «Deutschland sucht den Superstar» auf. Selten sah man in diesem Casting-Format, das mehr Träume schreddert als der Verfassungsschutz NSU-Akten, eine Hoffnung schmerzvoller zerfleddern. Und das ausgerechnet in dieser 19. Staffel DSDS, die sich das Motto «Music is King» aufs angeschmuddelte Image pinselte.
Ausgerechnet jetzt, wo sie nach dem Verschwörungsguru Xavier Naidoo, dem KZ-Relativierer Michael Wendler und dem Kotzbrocken Dieter Bohlen den Saubermann Florian Silbereisen an die Spitze wählte, ausgerechnet jetzt, wo alle lieb sein wollen, hinterliess die erste Folge ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Enttäuschung. Wie konnte das passieren? Wo doch Empathie-Neandertaler Dieter Bohlen samt Keule fehlt?
Der Tatort der Grausamkeit ist Wernigerode. Mitten auf dem Kopfsteinpflaster steht die Casting-Bühne im gläsernen Kubus, um den sich Eis schleckende Deutsche versammeln. Flamingos glitzern auf T-Shirts, weisse Sieben-Achtel-Hosen spannen, Käppis wackeln auf lichtem Haar, dazu offen stehende Münder. An diesem Drehtag im Sommer stürmt Melanie in den Kubus. Sie wirft die blonde Mähne zurück, winkt und vollführt parallel etwa zwanzig weitere Bewegungen. Sie lacht, die Jury lacht, die Regie legt einen warmen Filter übers Bild.
Melanies Stimme, angekurbelt vom Adrenalin, schrammt beim Sprechen den Maximalpegel, aber, tatsächlich, was für ein Sonnenschein. Vorangegangen war eine sympathische Einführung der Person: Auf Instagram zeigt die 21-jährige gebürtige Zürcherin das kleine Hotel in den Bergen, in dem sie als Zimmermädchen arbeitet, gleich neben Matterhorn und Walliser Schwarznasenschäfchen.
Mama Agi ist den ganzen Weg nach Wernigerode mitgekommen, sie ist ihre «grösste Bezugsperson», und Melanie schraubt die Fallhöhe mit Sätzen wie «mein grösster Traum ist die Musik», «Ich schaue DSDS, seit ich ein Kind bin» und «Ich habe immer zu meiner Mama gesagt: Irgendwann geh ich dahin!» auf gefährliche 8000er-Höhen.
Was machen die Juroren? Sie kuscheln
In diesen zwei Minuten liebt man Melanie, die Jury liebt Melanie, die Menschen draussen lieben Melanie, und so überrascht es nicht, dass Florian Silbereisen, kurz bevor die Kandidatin mit dem Song «Simply the Best» von Tina Turner beginnt, die Augen schliesst, die Daumen drückt und betet: «Bitte... kann singen.»
Jetzt aber die Realität, die bei Casting-Kandidaten gern von gleissender Hoffnung überstrahlt wird: Sie kann es nicht. Melanie schmettert los, und Florian Silbereisens Gesichtsausdruck entgleitet in eine mimische Urform, irgendwo zwischen blankem Entsetzen, Aggression und Lass-uns-Freunde-Werden. Man hört in dem Tonknäuel Shakira dröhnen, aber auch bei der war nie klar, ob das, was zwischen sexy Mädchen-Hauchen und Latina-Grölen passiert, guter Gesang ist.
Da steht also dampfendes DSDS-Futter vor den drei Juroren, Traum gegen Realität, fiebrige Fehleinschätzung gegen kalte Korrektur, Ball, Schläger, jetzt brauchen sie bloss noch schmettern. Aber was machen die Juroren? Sie kuscheln. Behutsam breiten sie ein Sprungtuch vor Melanie aus. Nur: Wer sich mit dem Traum seines Lebens auf diese Bühne begibt, den fängt nicht mal ein Ozean voll Zuckerwatte auf.
Da sagt «Ich habe mit Beyoncé gearbeitet»-Juror Toby Gad: «Du warst erst mal sehr unterhaltsam, sehr liebenswürdig, aber ein wenig eindimensional.» Da sagt «Country-Mega-Star» Ilse DeLange: «Ich finde mit singen – es ist zu viel.» Die ersten Tränen tropfen in die Tiefe. «Aber ich bin so weit gereist», schnieft Melanie, kämpft mit dem Wasser, das aus den Augen quillt.
Florian Silbereisen, der in der Show als «Deutschlands grösster Entertainer» vermarktet wird, spricht dann ein Machtwort: «Als Sängerin hier bei DSDS würde ich dir keinen Gefallen tun, wenn ich dir diesen Zettel gebe.» Blühender Unsinn, denn wer in den Abgrund blickt, interessiert sich nicht für langfristige Anlagestrategien. «Aber», sagt Melanie, die Augen rot, der Kajal verschmiert, ein letzter zittriger Versuch: «Aber das bricht mir das Herz.» Und Florian Silbereisen, hilflos: «Nein.»
Empathie will im Reality-TV kaum jemand sehen
Doch. Es folgen Bilder von Melanie, wie sie ihrer Mutter weinend in die Arme fällt. Und zwischen das Gestammel der Juroren («Ach Mensch», «Ach Gott», «Schau mal, wie traurig die ist») kriechen leise Fragen: Warum ist jetzt nichts besser? Warum tut das alles so verdammt weh? Und wo ist Dieter Bohlen?
Melanie geht es schlecht, Florian Silbereisen geht es schlecht, den Zuschauern geht es schlecht. Den Einschaltquoten geht es auch schlecht. Noch nie startete eine Staffel von DSDS mit so wenigen Zuschauern. Wie DWDL.de berichtet, schalteten zum Staffelstart lediglich 2,65 Millionen Zuschauer ein. Im Jahr davor waren es 3,25 Millionen. Die vorsichtige Prognose: Leid plus Empathie im Reality-TV, das will keiner sehen.
Der Fehler liegt im neuen System. «Warmherzig, emotional, aber auch ehrlich und mit absoluter klarer Kante – das ist DSDS 2022», verkündete der Sender in einer Pressemitteilung. Bohlen-Thronfolger Florian Silbereisen sagte im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur: «Ich würde definitiv jeden Job in einer Show ablehnen, in der man nicht respektvoll mit Menschen umgeht.» Die neue Putzigkeit scheint dem Kurswechsel zu folgen, den der Sender RTL gerade in einem groben Wendemanöver probiert: weg vom Demütigungsfernsehen hin zur Menschlichkeit.
Lachen als Folge eines «plötzlichen Triumphs»
Dass es schwierig ist, wenn ein kommerzielles Trash-Format, das Gefühle, Gesicht und Seele für ein leeres Versprechen verkauft (die durchschnittliche Karriere eines DSDS-Gewinners lautet: Dschungelcamp-Kandidat), sich plötzlich als Hort des Humanismus versteht – geschenkt. Weit schlimmer wiegt die Tatsache, dass der Sender glaubt, die Welt würde besser, wenn Florian Silbereisen verständnisvoll nickt.
Wie hätte Dieter Bohlen auf Melanie reagiert? Vielleicht mit einer sanften Variante wie «Was schön ist an dir – du hast ne schöne Klatsche» oder verachtend mit «Was ist der Unterschied zwischen dir und einem Eimer Scheisse? Der Eimer». Bohlen stocherte ja auch mal der Pointe wegen im Privatleben («Kann ich das noch verhindern, dass du Musiklehrer wirst?») oder maulte noch vor dem ersten Ton einer Kandidatin: «Mein Gefühl sagt mir, das wird nix.»
Ein Erklärungsversuch, warum es erträglicher war, Dieter Bohlen beim Zertrümmern zu beobachten: Es gibt grob geschätzt 500 Theorien zu Humor, eine davon ist die Überlegenheitstheorie. Es ist nicht die Schmeichelhafteste für das Wesen des Menschen, aber sie lehrt uns viel über die Funktionsweise des Spotts (und damit über Casting-Shows).
Thomas Hobbes, englischer Philosoph und Staatstheoretiker, jemand, der sich viel mit den Abgründen unserer Spezies beschäftigte, sah Lachen als Folge eines «plötzlichen Triumphs», als Ergebnis der eigenen Überlegenheit vor einer minderwertigen Person. Das klingt schlimm, aber schon im Alten Testament folgen die meisten Lacher dem Impuls der Verachtung und des Hohns.
Bohlens Showauftritte beruhten auf diesem Konzept: Einer, der sich mit Yacht-Selfies und uralten Modern Talking-Erfolgen brüstet, geniesst sein Überlegenheitsgefühl und kann sich über die zittrigen Gesangsdarbietungen der Dilettanten lustig machen.
Bohlen nahm alles Böse auf sich
Als Zuschauer konnte man über die Komik dieses Clashs lachen, aber es kam eine weitere Ebene dazu: Dieter Bohlen konnte man so richtig schön hassen – oder für seine Unverschämtheit feiern. Nein, das hat er jetzt nicht gesagt – hat er wirklich? Hat er diesen armen, aufgeregten Kandidaten «Furzfontäne» genannt?
Hat er den Auftritt gerade mit einem «Schaf, das an den Elektrozaun pinkelt», verglichen? Dieter Bohlen nahm die Rolle des Arschlochs auf sich, das blieb schon mal nicht an einem selbst hängen. Und der Zuschauer durchlebte damit die Entwicklung vom Höhnenden zum Hohn-Richter.
Natürlich zertrümmerte der sich selbst karikierende «Dietäää» damit den Selbstwert Dutzender junger Kandidaten, aber bei einigen löste seine Rundum-Beleidigung sogar gesunde Trotzreaktionen hervor.
Als er einmal die doch nachvollziehbare Frage aufwarf: «Wenn man scheisse singt, versteh ich nicht, wie ihr immer auf die Idee kommt, ins Showgeschäft zu wollen», antwortet die Kandidatin: «Okay, eine Meinung von vielen.» Ein anderer schmeisst Wassergläser nach den Juroren. Manche mussten selbst lachen über Bohlens Sprüche.
Merke Dir, Silbereisen: Herzen brechen, egal, wie weich die Erschütterung ist.
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