Interview zu News-Deprivation«Diese Weltuntergangsszenarien, die permanent auf uns einwirken, sind doch ermüdend»
Constantin Schreiber ist das Gesicht der deutschen «Tagesschau». Er hält die permanente Berieselung mit Nachrichten für problematisch – und erklärt, warum Politik in seinem Alltag kaum mehr Platz bekommt.
Herr Schreiber, Sie sind Journalist und plädieren für weniger News-Konsum. Wie geht das zusammen?
Ich plädiere für gezielten News-Konsum, nicht für andauernden. Ich habe an mir selbst gemerkt, dass es auch zu viel sein kann. Seither schalte ich öfter mal um, aber nicht ab. Nichts mitzubekommen, ist keine Lösung, aber sich einmal ganz bewusst anderen Dingen als der Weltlage zu widmen, ist wichtig.
Trotzdem ist es ein ganz anderer Appell, wenn Sie als Journalist das sagen.
Vor eineinhalb Jahren hatte ich ein kurzes Blackout vor der Kamera. Nach zwei Jahren Corona und viel Schichtdienst brach plötzlich der Ukraine-Krieg aus, die Ausnahmesituation schien kein Ende mehr zu nehmen, ebenso wenig die schlechten Nachrichten. Ich kam vor der Kamera ins Grübeln, wünschte auf einmal keinen «schönen», sondern einen «guten» Abend. Ich fragte mich, wo mein Optimismus geblieben war und ob das etwas mit permanenter News-Getriebenheit zu tun hat. Und da habe ich zunächst auch die berufliche Verpflichtung gespürt, die ganze Zeit am Ball zu bleiben und alles mitzubekommen.
Jetzt ist der Mensch ja grundsätzlich ein empathisches Wesen. Was passiert, wenn wir uns mit dieser Veranlagung auf die Weltlage einlassen?
Empathie kann leicht in Verzweiflung umschlagen, wenn wir merken, wie hilflos wir damit manchmal sind. Das zeigte sich vor allem in der Corona-Zeit: Durch die ständige Diskussion um neue und alte Regeln verloren viele den Bezug zum eigentlichen Problem, irgendwann wusste niemand mehr, was eigentlich gilt.
War das die Zeit, in der viele Leute bezüglich News den Anschluss verloren haben?
Nein, zumindest bei uns in der «Tagesschau» der ARD waren die Zugriffszahlen rekordhoch. Aber jeder schlechten Nachricht folgte gefühlt eine noch schlechtere – und wir als durchdigitalisierte Menschen im Informationszeitalter nahmen sie auf unseren Handys stoisch auf. Wir lesen immer «more of the same», Algorithmen lassen uns durch einen nicht abreissenden Strom von schlechten News scrollen. Die Soziologie hat dafür den Begriff «doom scrolling» kreiert.
Medien liefern, was die Leserschaft will. Muss sich etwas an der Quelle ändern?
Ich habe meine Zweifel, ob man durch künstlich herbeigeführte Konstruktivität etwas ändern kann. Selbst wenn ich sie mit einem konstruktiven Lösungsvorschlag anreichere, bleibt die Nachricht im Kern das, was sie ist: Unter Umständen halt eine schlechte Nachricht. Vielleicht muss man jetzt einmal akzeptieren, dass wir den Krisenmodus verlassen wollen, sich die Leute für eine Weile wieder für anderes interessieren.
«Das Verständnis von gewissen Zusammenhängen auf der Welt ist Voraussetzung für viele Jobs.»
Wenn jemand Aktualität nicht nur selektiver konsumiert, sondern irgendwann bewusst meidet, spricht man von News Avoidance. In der Schweiz halten es 55 Prozent der 16- bis 29-Jährigen so. Für wen ist das ein Problem?
Letztlich für alle. Als Erstes für die Politik, weil ein Diskurs von informierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern lebt. Und es betrifft die Wirtschaft: Das Verständnis von gewissen Zusammenhängen auf der Welt ist Voraussetzung für viele Jobs.
Die meisten News-Avoider leben in Brasilien, den USA, aber auch im Vereinigten Königreich. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der politischen Situation und dem News-Konsum?
Ich war als Journalist viel im Nahen Osten unterwegs. Dort traf ich in manchen autoritär und diktatorisch organisierten Staaten mit einer verarmten Medienlandschaft politisch ungemein interessierte Menschen. Insofern frage ich mich oft, was das mit der News Avoidance bei uns bedeutet. Unangenehm wäre natürlich, wenn dem ein Vertrauensverlust in den demokratischen Diskurs zugrunde liegen würde. Dann wäre es letztlich eine Herausforderung für die Politik, nicht den Journalismus.
Wer sich nicht mehr fürs Zeitgeschehen interessiert, gerät in Verdacht, sich generell von der Gesellschaft abwenden zu wollen. Und das in Zeiten, in denen Vereine um Mitglieder kämpfen und Ehrenämter vakant bleiben. Besteht da ein Zusammenhang?
Ich lese weniger Zugriffszahlen bei den News nicht als Ausdruck eines desinteressierten Zeitgeistes. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass es Leute gibt, die sich bewusst aus allem rausnehmen: Dem Job, dem Interesse an der Öffentlichkeit – um dann etwas Soziales zu machen. Dafür appelliere ich ja auch mit meinem Buch: Dass man durch gezielten Nachrichtenkonsum mit sich selbst ins Reine kommt, um wieder mehr mit anderen Leuten in Kontakt zu treten.
Interessant ist dabei, dass Politik in unserem Alltag so präsent zu sein scheint wie noch nie. Alles ist politisch: die Freizeit, die Arbeit, die Wahl der Kleidung.
Ich habe mich in meinem Freundeskreis längst entpolitisiert. Wenn ich Gespräche bewusst in eine andere Richtung lenke, wenn es mal wieder nur um Grundeinkommen und Frauenquote geht, spüre ich beim Gegenüber manchmal auch Erleichterung. Ich bin der Ansicht, dass es mich nicht weiterbringt, wenn ich die detaillierte politische Position meines Gegenübers kenne.
«Ich bin froh, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch einen gewissen Einfluss hat.»
Sie sind ein politisch interessierter Mensch, äussern sich aber kaum mehr politisch. Besteht gar kein Bedürfnis dazu?
Doch, aber einfach zurückhaltender. Was mir diesbezüglich oft durch den Kopf geht: Wie war das, als ich noch Student war? Wir waren politisch auf keinen Fall weniger interessiert als heute. Aber ich hatte, was die politische Einstellung angeht, einen sehr diversen Freundeskreis. Ich denke, wir waren nicht unglücklicher als die heutige Jugend.
Eine inhaltliche Erklärung dazu wäre: Weil man sich gewissen Dingen verschlossen hat.
Da bin ich mir nicht so sicher. Man hat sich ja schon damals mit Aktualität beschäftigt. Aber man hat die eigene Meinung womöglich nicht die ganze Zeit vor sich hergetragen. Im Prinzip ist das die Quintessenz demokratischer Ansicht: Ich lass dir deine Meinung, deine Ausrichtung – und ich muss nicht ständig darüber informiert sein. Es ist ja beinahe schon eine Herausforderung, in einem Gespräch der Politik aus dem Weg zu gehen. Selbst wenn man über Filme spricht, geht es womöglich sofort um die Diversität bei der Besetzung. Es ist alles so einstudiert, so routiniert geworden.
Was in der deutschsprachigen Medienlandschaft auffällt: Sie ist geprägt von einem starken öffentlichen Rundfunk. Welchen Einfluss hat das auf den Medienkonsum?
Ich weiss es nicht. Aber wenn ich mir die englischsprachige Medienlandschaft anschaue, so nehme ich dort alles viel schriller wahr, die Lager sind noch klarer getrennt, alles ist ausgeprägter.
Wirken sehr dominante Medienanstalten wie die öffentlich-rechtlichen womöglich abschreckend auf die Wackelkandidaten, die sowieso wenig News konsumieren?
Man kann vielleicht einiges am öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisieren. Aber grundsätzlich bin ich sehr froh, dass er noch einen gewissen Einfluss hat. Mir gruselt vor einer Zukunft in einem digitalen Raum, wo es auch für undurchschaubare Organisationen einfach ist, Inhalte an die Leute zu bringen. Darüber mache ich mir mehr Sorgen als um eine von der öffentlichen Hand finanzierte Medienlandschaft.
Kann man als Konsument mit zuverlässigen Informationen auch besser umgehen? Beugt Medienqualität der News-Deprivation vor?
Das ist wahrscheinlich sehr individuell. Ich werde ja vorderhand nicht durch die Medien geprägt, die ich konsumiere, sondern vor allem durch mein Umfeld. Wer einen problematischen Alltag zu meistern hat, liest die Zeitung mit einem anderen Blick.
Eine Erkenntnis aus Ihrem Buch ist auch, dass man glücklich wird, indem man seine Talente ausspielt. Bei Ihnen ist das der Auftritt vor der Kamera. Dabei aber sind Sie den Nachrichten ausgesetzt, von denen Sie am liebsten weniger mitbekommen würden. Ist das Ihre ganz persönliche Zwickmühle?
Ich habe mit dem gelegentlichen Umschalten ja schon eine Lösung für mich gefunden. Ich trenne deutlicher zwischen Arbeit und Freizeit, versuche, Handy und Laptop nach Dienstschluss auch mal wegzulegen. Aber ja, es ist eine Herausforderung. Weniger Medien konsumieren, das klingt so banal. Es gibt so viele Situationen, in denen man die Wahl hat: Guck ich in die Luft, oder guck ich aufs Handy. Ich habe mir angewöhnt, während Wartezeiten Anrufe zu erledigen. Aber es gibt so wahnsinnig viele von diesen Zwischendurchzeiten, dass man sich immer wieder fragt: Was haben wir da jeweils früher gemacht?
Wir hatten wohl auch mal Leerlauf.
Genau diese leeren Phasen hat das Smartphone jetzt gefüllt. Leider auf eine Weise, die vielen von uns nicht guttut.
Aber wenn Sie Ihren Beruf nicht hätten, würde Sie ja nichts davon abhalten, einfach «abzuhängen» und zumindest am Handy keine News mehr zu verfolgen?
Die meisten Nicht-Journalisten gucken ja nicht weniger aufs Handy. Diese Durchdringung ist schon ziemlich absolut. Als ich mit dem Schreiben für dieses Buch schon fast durch war, kam mir eine Studie in die Finger, die zu einem einleuchtenden Schluss kam: Was wir digitalisierten Menschen lernen müssen, ist kritisches Ignorieren.
Heisst?
Wir müssen auf den ersten Blick erkennen: Brauche ich diese Information? Wenn nicht, dann muss ich nicht noch den Artikel, den Post, die Einschätzung lesen. Unsere Filter müssen geschärft werden.
Sie erwähnen in Ihrem Buch die arabische Redewendung «Inschallah», so Gott will. Auch im Sinne von: Es kommt, wie es kommen muss. Tut es gut, wenn man eine solche Gelassenheit für sich entdeckt?
Ja. Wobei «Es kommt, wie es kommen muss» ja etwas Auswegloses hat. «Inschallah» hat für mich eine andere Konnotation, ich setze es mehr gleich mit «Urvertrauen», es hat etwas sehr Positives. Der Bus kommt nicht? Dann kommt halt der nächste. «Inschallah» geht nicht vom Schlimmsten aus, wie ich das in unseren Debatten oft das Gefühl habe. Es hat etwas sehr Entspanntes, wenn man denkt: Es wird schon irgendwie werden. Diese Grundhaltung begegnet einem im Nahen Osten, wo ja vieles nicht gut funktioniert, sehr oft.
«Diese Weltuntergangsszenarien, die permanent auf uns einwirken, sind doch ermüdend.»
Kann man denn sagen, dass dort, wo es in der Welt am schlimmsten läuft, die Leute am Ende besser gelaunt sind?
Vielleicht nicht im Sinne einer Laune, aber bezogen auf ein Vertrauen in die Dinge schon. In Deutschland bekommt man manchmal das Gefühl, es stehe alles kurz vor dem Zusammenbruch.
Sie schreiben, dass man nicht permanent im Krisenmodus sein könne.
Als Haltung ist der Krisenmodus schwierig. Diese Weltuntergangsszenarien, die permanent auf uns einwirken, sind ermüdend.
Ihre Umstellung im News-Konsum wurde auch zu einer Suche nach den Formen des Glücks. Ist das nicht naiv?
Ich würde nicht sehen, warum. Ich habe mich lediglich damit auseinandergesetzt, wie man glücklicher, zufriedener, resilienter werden kann.
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