Kantonale Anlaufstelle2900 Frauen sind von Genitalverstümmelung betroffen – das tut Zürich dagegen
Eine Zürcher Anlaufstelle hilft Frauen, die von der Beschneidung betroffen oder bedroht sind. Landsleute betreuen sie und melden: «Der Druck ist enorm.»
Noch vor Sonnenaufgang werden drei, vier Mädchen zusammen zur alten Hebamme gebracht. Sie sind sieben, höchstens acht Jahre alt. Dort werden sie zu einem «grossen Mädchen» gemacht. Auch die Mamma hat dasselbe schon erlebt, und die Grossmutter, die Tanten, die Cousinen. Das Ritual macht sie rein. Tun sie es nicht, werden sie von den anderen Mädchen verspottet. Aber wenn alles vorbei ist, gibt es ein kleines Geschenk.
In Somalia werden Mädchen so auf den Tag ihrer Genitalbeschneidung vorbereitet, erzählt eine Community-Workerin der neuen Zürcher Anlaufstelle für Betroffenen weiblicher Genitalbeschneidung. Sie ist Somalierin – und hat diesen Tag vor Jahren selber erlebt. Was dann folgt, laufe oft so ab: Die Mädchen liegen auf einer Matte am Boden. Ihnen werden die Augen verbunden. Zwei Frauen halten sie fest. Betäubungsmittel bekommen sie keine. Dann greift die Hebamme zur einfachen, unsterilen Rasierklinge.
Die Weltgesundheitsorganisation hat 1997 verschiedene Typen von Beschneidungen definiert. Je nach Typ werden die äussere Klitoris, die Klitorisvorhaut, die inneren und/oder die äusseren Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt, abgeschabt oder verätzt. Bei der sogenannten Infibulation wird die Vaginalöffnung nach der Entfernung der äusseren Genitalien zudem fast vollständig zugenäht. Nur ein kleines Loch wird frei gelassen, damit Urin und Menstruationsblut tröpfchenweise abfliessen kann.
Folgeschäden der Verstümmelung sind enorm
Eine Beschneidung kann nicht rückgängig gemacht werden und führt oft zu psychischen und körperlichen Folgeschäden. Während der Beschneidung entstehen massive Schmerzen, Blutungen und oft Infektionen. Danach leiden viele Frauen jahrelang unter chronischen Erkrankungen und Infektionen. Beispielsweise Schmerzen beim Wasserlassen, Inkontinenz oder Harnwegsinfektionen, Schmerzen bei Menstruation und Geschlechtsverkehr, Zyklusstörungen, Entzündungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen.
«Dass die Beschneidung einen Zusammenhang mit ihren psychischen oder körperlichen Problemen haben kann, wissen viele betroffene Frauen gar nicht», sagt Sozialarbeiterin Ann Schädler. Sie berät im Ambulatorium an der Kanonengasse Frauen, Angehörige und Fachpersonen für die Anlaufstelle FGMhelp (FGM steht für Female Genital Mutilation).
FGMhelp ist Teil des stadtärztlichen Dienstes und hat vor rund einem halben Jahr den Betrieb aufgenommen und bereits die ersten kostenlosen Beratungen durchgeführt. Initiiert wurde FGMhelp vom Zürcher Regierungsrat zum Schutz von betroffenen und bedrohten Mädchen und Frauen. «Der Regierungsrat verurteilt die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung scharf, da es sich um eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt», schrieb die Regierung damals in ihrer Mitteilung. Schätzungen zufolge seien über 2900 Frauen im Kanton Zürich von Genitalbescheidung betroffen oder gefährdet.
Die ersten Beratungen sind gestartet
In den ersten Monaten der Anlaufstelle wurde viel «klassische Aufbauarbeit» geleistet, wie Katja Theissen, Leiterin der Anlaufstelle, sagt. Das heisst: «Wir haben für eine optimale Beratung der Frauen ein Netz an Fachpersonen und Organisationen zusammengestellt.» Eine Kernaufgabe von FGMhelp ist es auch, Fachpersonen zu sensibilisieren, die zu Betroffenen Kontakt haben. Sprich: Haus- und Kinderärztinnen, Sozialarbeiter, Mitarbeitende in Migrations- oder Asylzentren oder Lehrpersonen.
Aber auch Beratungen hat die Fachstelle bereits zahlreiche durchgeführt. Die genaue Anzahl wird nach einem Jahr ausgewertet. «Kürzlich hat sich eine Lehrperson bei uns gemeldet, die fürchtet, dass ein Mädchen aus ihrer Klasse in den Sommerferien in ihrem Heimatland beschnitten werden könnte», erzählt Ann Schädler. Ein realistisches Szenario, sagt auch die Community-Arbeiterin, die anonym bleiben möchte. «Der soziale Druck, unter dem viele Eltern stehen, wenn sie in ihr Heimatland reisen, ist enorm», sagt sie.
Die Tradition der Bescheidung ist tief verankert. In Somalia beispielsweise sind 98 Prozent der Frauen genital verstümmelt. Die Beschneidung gilt als Voraussetzung für die Ehe. «Der Mann erwartet eine Frau, die beschnitten ist», sagt die Community-Arbeiterin. Indem die Klitoris entfernt wird, versuche man die Sexualität der Frau zu kontrollieren. «Viele Völker in Somalia sind nomadisch, und die Männer sind oft unterwegs. Indem die Frau beschnitten ist, will man garantieren, dass sie keinen Ehebruch begeht.»
Ein Schutzbrief für die Eltern
Wenn nun Eltern, die in der Schweiz über die Schäden von Beschneidungen aufgeklärt wurden, in ihr Heimatland reisen, würden sie oft nicht wissen, wie sie ihrer traditionsbewussten Familie kommunizieren sollen, dass sie ihr Kind nicht verstümmeln lassen wollen. Auch bei diesem Problem kann FGMhelp weiterhelfen. «Seit Juli gibt es in der Schweiz einen Schutzbrief, den wir den Eltern aushändigen», erklärt Schädler.
Das Büchlein sieht ähnlich aus wie ein Schweizer Pass und klärt in der jeweiligen Landessprache darüber auf, dass Genitalbeschneidung in der Schweiz strafbar ist und dass Eltern mit Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden können, wenn sie an ihrem Kind eine Beschneidung vornehmen lassen – auch im Ausland.
Die Herausforderungen der Fachstelle
Die Kommunikation mit den Betroffenen sei eine Aufgabe, die sensibel angegangen werden müsse, sagt Ann Schädler. «Die Beschneidung ist eine uralte, fest verankerte Tradition, die wir in Europa verurteilen.» In den Beratungen müsse man den Familien aufzeigen, «dass wir sie nicht für ihre Tradition bestrafen oder mit dem Finger auf sie zeigen wollen, sondern dass wir sie über die Folgen von FGM aufklären wollen».
Die Lehrperson im eben erwähnten Beispiel könnte beispielsweise von FGMhelp ein Coaching bekommen, wie sie mit den Eltern des Mädchens am besten reden könnte. «Fühlt er oder sie sich dem Gespräch nicht gewachsen, übernehmen wir das», sagt Schädler.
Eine Schlüsselrolle in der Kommunikation mit Betroffenen und Gefährdeten haben die acht Community-Arbeiterinnen von FGMhelp. Sie kommen aus Somalia, Eritrea, Äthiopien und dem Sudan und pflegen die Kontakte zu ihren Landsfrauen oder besuchen Veranstaltungen für Frauen mit Migrationshintergrund. «Zu uns haben die Frauen oft mehr Vertrauen als zu europäischen Frauen», sagt die Community-Arbeiterin.
Da die Beschneidung aber ein Tabuthema ist, muss das Thema auch in der vertrauten Gruppe behutsam angegangen werden. Die Arbeiterin sucht deshalb oft den Zugang zu den Frauen über Gespräche zur allgemeinen Frauengesundheit. Und erst in einem zweiten Schritt fragt sie nach der Vergangenheit, nach dem Tag, an dem die Frauen – wie sie einst – zur Beschneidung mussten.
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