Die wichtigsten Fakten und TippsDie Wahrheit über den Protein-Hype
Sie gelten als Wunderstoff: Proteine sollen uns schön, stark und gesund machen – und retten wir mit pflanzlichen Eiweissen gar das Klima? Antworten zum Kulturphänomen High Protein.
Was sagt der allgemeine Protein-Hype über den Zeitgeist?
Es ist nicht lange her, da schaufelten bloss Ernährungsextremisten wie Bodybuilder oder Profisportler Extraportionen von Eiweiss in sich hinein. Mittlerweile ist der Protein-Hype in den Regalen der Grossverteiler angekommen: High-Protein-Drink, High-Protein-Müesli, High-Protein-Cordon-bleu, -Cracker, -Cookies, -Quark – es scheint, als gäbe es kein Lebensmittel, das man nicht mit Zusatzproteinen aufpeppen kann. Auf Instagram stiess unlängst der Hashtag #protein auf Platz zwei der populärsten Fitnessschlagworte vor, hinter #hardbody. Und auf Tiktok geht derzeit das Eiweiss-Glace aus Hüttenkäse viral.
Der Heisshunger nach dem Nährstoff, aus dem unsere Muskeln sind, widerspiegelt das kollektive Streben nach jugendlicher Kraft bis ins hohe Alter. Und gleichzeitig stellen uns die Proteine – sie sind sogenannte biologische Makromoleküle, bestehend aus Aminosäuren – vor eine Gewissensfrage: Verzehren wir, als wäre unser Leben eine einzige Grillparty, vorwiegend tierische Eiweisse und killen mit den Schweinen, Rindern, Hühnern gleich noch das Klima? Oder schlagen wir uns auf die Seite der moralisch Starken, die sich mit pflanzlichem Eiweiss begnügen, Tofu und Quinoa futtern, um die Erde und ihre Geschöpfe zu retten?
Wie immer wir uns entscheiden mögen, unser Eiweissverzehr ist nicht privat, sondern hochpolitisch.
Ist High Protein das neue Low Calorie?
In Deutschland stieg im letzten Jahr der Absatz von Hochprotein-Produkten gemäss dem Nachrichtenmagazin «Focus» um 30 Prozent. Für die Schweiz sind keine entsprechenden Zahlen verfügbar. Gewiss aber ist: Der Protein-Trend nährt auch die Umsätze der hiesigen Lebensmittelindustrie. Die Migros vermeldet eine «steigende Nachfrage» nach Hochprotein-Angeboten und lancierte zwei entsprechende Eigenmarken («Oh!» und «You»). Auch Coop registriert «einen Trend rund um High-Protein-Produkte» und «baut das Sortiment laufend aus». Tatsächlich haben die High-Protein-Nahrungsmittel in gewissem Masse die Light-Produkte abgelöst, «der Trend geht weg von Diät hin zu Fitness», sagt Migros-Mediensprecherin Carmen Hefti, «dementsprechend passt sich unser Angebot an».
Wer benötigt denn überhaupt diese High-Protein-Produkte?
Die meisten Expertinnen und Experten halten den Protein-Hype für einen ziemlichen Unsinn, viele für reine Geschäftemacherei. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) etwa reagierte auf die Eiweiss-Offensive der Lebensmittelindustrie mit Klartext: «Aus ernährungsphysiologischer Sicht sind High-Protein-Produkte überflüssig», gab die Fachgesellschaft bekannt. Chips oder Schokoriegel würden nicht gesünder, nur weil zusätzliches Protein beigemischt sei. Nicht weniger deutlich gibt sich die hiesige Stiftung für Konsumentenschutz: «Es zeigt sich, dass die Lebensmittelindustrie unter dem Vorwand, die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten fördern zu wollen, einfach viel Geld machen will», sagte Josianne Walpen, Leiterin Ernährung, unlängst gegenüber dieser Redaktion.
Die ganz grosse Mehrheit der Bevölkerung, darin sind sich die Fachleute einig, ist durch die herkömmliche Ernährung ausreichend mit Proteinen versorgt und kann sich das Geld für teure Hoch-Eiweiss-Lebensmittel sparen. Das gilt selbst für Freizeitsportler oder Seniorinnen und Senioren, falls sie sich um einen ausgewogenen Speiseplan bemühen. Wer trotz des klaren Expertenkonsenses nicht auf Eiweiss-Ergänzungsprodukte verzichten will, der greift, so der Ernährungsfachmann und Autor Paolo Colombani, «am besten zu zuckerfreien oder zuckerarmen Proteinpulvern». Populäre Proteinbomben wie Riegel oder Puddings sind oft auch Zuckergranaten – und somit für die meisten von uns kaum empfehlenswert.
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Warum verkaufen Migros und Coop Produkte, die eigentlich niemand benötigt?
Die Migros, die auf der Website Migros-Engagement erklärt, sie wolle «möglichst vielen Menschen zu einer besseren Gesundheit verhelfen», verweist darauf, dass die bei den Experten umstrittenen High-Protein-Angebote «eine Kundennachfrage befriedigen». «Wir bewerben diese Produkte nicht mit dem Versprechen, dass sie gesundheitsfördernd seien», sagt Migros-Sprecherin Carmen Hefti, «das sind lediglich proteinreiche Lebensmittel.» Coop lässt auf die Kritik von Gesundheitsfachleuten und Konsumentenschützern am boomenden Geschäft mit der Protein-Power verlauten: «Wir richten unser Angebot grundsätzlich nach den Bedürfnissen unserer Kundinnen und Kunden.» Das Gesetz von Angebot und Nachfrage taugt offenbar auch als Ernährungskompass.
Welche Eiweisse sind effizienter: Pflanzliche oder tierische?
Jedes Protein, ob pflanzliches oder tierisches, besteht aus 20 Aminosäuren. Neun davon sind für den Menschen lebensnotwendig, er muss diese neun essenziellen Aminosäuren mit der Nahrung aufnehmen. Tierische Eiweisse haben in der Regel eine höhere biologische Wertigkeit als pflanzliche, daran gibt es nichts zu rütteln – sie enthalten alle essenziellen Aminosäuren in reichlicher Menge, die wir in unserer Ernährung benötigen. Pflanzliche Proteine sind dagegen suboptimale Proteinquellen, sie liefern das vollständige Aminosäurenprofil nur in geringerem Ausmass. Aus Effizienzgründen wäre somit tierischen Eiweissen der Vorzug zu geben – und weil diese so potent sind, genügen auch bescheidene Mengen an Fleisch auf dem Speiseplan, so wie allgemein empfohlen.
Gibt es gute und böse Proteine?
Essen, wir wissen es, ist mehr als Nahrungsaufnahme. Essen ist heute ebenso eine moralische Frage. Und in der Sphäre von Gut und Böse haben die Pflanzenfresser unter uns, die Veganerinnen und Veganer, die grundsätzlich tierisches Protein ablehnen, die besseren Argumente. Sie wenden sich gegen das Töten von Tieren. Sie verweisen auf die angeblich ungleich bessere CO₂-Bilanz und den geringeren Wasserverbrauch bei der Produktion von pflanzlichen Proteinen. Dem können Karnivoren entgegenhalten: Es ist ganz besonders den tierischen Eiweissen zu verdanken, dass das Gehirn des Homo sapiens in den vergangenen 2,5 Millionen Jahren dermassen gewachsen ist – und wir uns überhaupt über politisch korrektes Protein streiten können.
Historisch gesehen war das Fleisch immer dort, wo die Macht war: bei den Privilegierten, die den Zugriff auf Ländereien hatten, die über das Recht verfügten, zu jagen. Die Abkehr vom Fleisch hingegen war immer auch ein Protest gegen die Mächtigen; ein Beispiel aus der Antike ist die griechische Reformbewegung der Pythagoreer, die ersten Vegetarier gewissermassen, die ihre fleischlose Ernährung als Zeichen ihrer moralischen Überlegenheit betrachteten.
Kann man sich ausschliesslich mit pflanzlichen Eiweissen ernähren?
«Ja, es ist möglich, sich als Veganerin oder Veganer ausschliesslich mit Pflanzenproteinen zu versorgen», sagt Ernährungsexperte Colombani, «aber es ist alles andere als einfach.»
Alle essenziellen Aminosäuren kommen auch in pflanzlichen Proteinen vor, aber, wie erwähnt, generell in geringeren Mengen als in tierischen Proteinen. «Wer sich vegan ernähren will, muss sich genau informieren, mit welchen Kombinationen an pflanzlichen Nahrungsmitteln er oder sie essenzielle Aminosäuren in genügenden Mengen aufnimmt», sagt Colombani. Eine anspruchsvolle Aufgabe, an der, so beobachtet der Ernährungsfachmann, insbesondere «Zeitgeist-Veganer» oft scheitern, wenn diese ohne ausreichendes Wissen auf eine rein pflanzliche Ernährung umsteigen. Die Folge? Mangelerscheinungen, auch bei diversen Mineralstoffen und Vitaminen.
Können wir mit einer proteinreichen Ernährung abnehmen?
Diättrends sind ähnlich launisch wie die Mode. Low Carb und Low Fat waren gestern, High Protein heisst das neue Abnehmrezept. Tatsächlich machen Lebensmittel, die viel Eiweiss enthalten, schneller satt als solche mit einem tiefen Proteingehalt – zudem hält das Sättigungsgefühl länger an. «Unser Appetit hält so lange an, bis der Körper seinen Proteinbedarf gestillt hat», sagt Colombani. Allerdings verliert man deshalb noch nicht an Gewicht – um abzunehmen, gibt es nur eine Strategie: weniger Kalorien zu sich zu nehmen, als man verbraucht. So enthält ein High-Protein-Bar von Mars zwar mehr Eiweiss als der klassische Riegel, der Kaloriengehalt ist allerdings derselbe, stolze 230 Kilokalorien pro Riegel.
Was geschieht, wenn wir zu viele Proteine zu uns nehmen?
Nahrungsergänzungen, die versprechen, uns gesünder zu machen, können bei zu hoher Dosierung genau das Gegenteil bewirken. So weiss man, dass eine chronische Überzufuhr von Vitaminen und Mineralstoffen ernsthafte Krankheiten bis zu Krebs verursachen kann (beispielsweise erhöhen sehr hohe Vitamin-E-Gaben das Risiko für Prostatakrebs, bei der Überdosierung von Kalium drohen Herzrhythmusstörungen).
Proteine hingegen sind in dieser Hinsicht gnädiger, schädlich ist ein übertriebener Proteinkonsum nicht. Die überschüssigen Aminosäuren werden zu Ammoniak umgebaut und als Harnstoff ausgeschieden. Wenn man genug trinkt und gesunde Nieren hat, ist dies unbedenklich.
Aber es bedeutet: Wer mehr Eiweiss aufnimmt, als er benötigt, verschwendet sein Geld – und geht einiges häufiger auf Toilette.
In einer früheren Version des Artikels stand «So enthält ein High-Protein-Bar von Mars zwar mehr Eiweiss als der klassische Riegel, der Kaloriengehalt ist allerdings derselbe, stolze 230 Kilokalorien pro 100 Gramm.» Richtig ist: 230 Kilokalorien pro Riegel.
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