«Die Vorstellung, wer Schweizer ist, braucht ein Update»
Über ein Drittel der Bevölkerung in der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Der Historiker Kijan Espahangizi plädiert daher für eine neue Sicht auf die Schweiz.
Es handelt sich um eine zentrale Frage im gesellschaftlichen Zusammenleben und in der politischen Debatte: Wer ist das Volk? Wer sind «Wir», wer sind die «Anderen»? Die Bevölkerungsstatistik spielt hier eine wichtige Rolle. Sie gibt an, wie gross der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung ist und wie er sich im Laufe der Zeit verändert. Mit dieser Zahl wird seit über hundert Jahren in der Schweiz Politik gemacht. Die über das Staatsbürgerrecht definierte Trennung in Schweizer und Ausländer prägt unsere Sicht auf die Gesellschaft. Überspitzt formuliert: Die Ausländerstatistik gibt vor, wer dazugehört und wer nicht dazugehört.
Wissenschaftler betonen allerdings schon lange, dass die alten Ausländerstatistiken allein nicht geeignet sind, die plurale Realität heutiger Einwanderungsgesellschaften abzubilden. Der in Zürich forschende und lehrende Historiker Kijan Espahangizi verweist hier zum Beispiel auf Menschen, die in der zweiten und dritten Generation in der Schweiz leben und hier ihre Heimat haben, aber rechtlich Ausländer sind. «Auch nationale Mehrfachzugehörigkeiten, tatsächlich und gefühlt, passen hier nicht ins Bild», sagt Espahangizi, der zur Migrationsgeschichte der Schweiz arbeitet. Ausserdem gebe es Menschen, die – obwohl sie rechtlich Schweizer Bürger sind – aufgrund von Aussehen, Hautfarbe, Name, Sprache und Lebensstil im Alltag weiterhin als Ausländer wahrgenommen werden.
Vom Ausländer zum Menschen mit Migrationshintergrund
Da die rechtliche Unterscheidung Inländer/Ausländer nicht ausreicht, fand in den 2000er-Jahren eine neue, soziologische Kategorie Eingang in die Statistiken: die Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Auch die Schweizer Behörden arbeiten mit dieser Kategorie. Der Migrationsstatus einer Person ergibt sich hier durch die Kombination der persönlichen Merkmale «Geburtsland», «Staatsangehörigkeit bei Geburt» und «aktuelle Staatsangehörigkeit» sowie dem Merkmal «Geburtsland der beiden Eltern» (siehe Infobox zur Definition des Bundesamts für Statistik, BFS).
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Gemäss der aktuellsten BFS-Statistik haben 37,2 Prozent der in der Schweiz lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Die entsprechende Quote ist in den letzten Jahren stetig angestiegen, im Jahr 2017 um 0,4 Prozentpunkte gegenüber 2016. Wie die BFS-Zahlen weiter zeigen, sind über ein Drittel der Personen mit Migrationshintergrund Schweizerinnen und Schweizer und damit die häufigste Nationalität. Es folgen bei den Männern die Italiener, bei den Frauen die Deutschen. Auf dem dritten Rang ist es umgekehrt. Mit 44,5 Jahren ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Schnitt fast 6 Jahre jünger als diejenige ohne. Am stärksten vertreten sind Personen mit Migrationshintergrund in der Altersgruppe der 25- bis 39-Jährigen mit einem Anteil von fast 47 Prozent. Die Daten zum Migrationsstatus stammen aus der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, die nur Personen ab 15 Jahren erfasst.
Auch die Kategorie des Migrationshintergrunds unterscheidet zwei Gruppen.
Die Kategorie des Migrationshintergrunds ermöglicht ein komplexeres Bild der Bevölkerung als die Ausländerstatistik. Aber auch sie unterscheidet letztlich zwei Gruppen: ein «Wir» und ein «Ihr». Die Fixierung auf den Migrationshintergrund wird zunehmend als problematische Fortsetzung der alten ausländerpolitischen Logik empfunden.
«Das war am Anfang nicht so, daran kann ich mich gut erinnern», sagt der Historiker Espahangizi, Sohn einer Deutschen und eines Iraners, der seit langem in der Schweiz lebt. Die Kategorie Migrationshintergrund sei in ihren Anfängen durchaus auch als Fortschritt und Empowerment wahrgenommen worden, als eine Möglichkeit, dazuzugehören, ohne seine Migrationsgeschichte zu verdecken.
«Die Kategorie des Migrationshintergrundes ist grundsätzlich ambivalent», sagt Espahangizi. «Sie verschiebt die Linie von Inklusion und Exklusion.» Einerseits ermögliche sie ein differenzierteres Bild von nationaler Zugehörigkeit im Zeitalter von Migration und Globalisierung, und sie biete die Möglichkeit, Integrationsverläufe und strukturelle Diskriminierung von Mitbürgern mit Migrationshintergrund statistisch sichtbar zu machen. Andererseits sei hiermit eine neue, problematische Unterscheidungslinie zwischen «richtigen» Schweizerinnen und Schweizern und jenen mit Migrationshintergrund gezogen worden.
Es fehlt eher der politische Wille zur Anerkennung der pluralen Einwanderungsgesellschaft, die die Schweiz faktisch längst ist.»
Eine weitere Schwierigkeit ist, wie Espahangizi betont, dass anhand des Migrationshintergrunds noch gar nichts über die Position von Menschen in einer Gesellschaft ausgesagt würde. «Das ist ein grosser Topf für sehr unterschiedliche Startchancen, Migrationsverläufe, Herkunftsregionen, soziale Hintergründe usw.» Zum Beispiel machten nicht alle Mitmenschen mit Migrationshintergrund auch Rassismuserfahrungen. Und weiter: «Auch wenn in den letzten Jahren der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund als Zahl immer mehr Bedeutung gewinnt gegenüber der Ausländerquote, bleibt hier doch die Funktion mehr oder weniger dieselbe.» Die einen nutzten die Zahl, um Ängste vor Überfremdung zu schüren, die anderen, um Handlungsbedarf bezüglich einer Anerkennung und Gestaltung von Einwanderungssituationen einzufordern.
Im Zeitalter globaler Migrations- und Fluchtbewegungen sind auch nationale Identitäten im Wandel. Darum muss in demokratischen Gesellschaften wie der Schweiz neu ausgehandelt werden, was Zugehörigkeit heisst. «Unser Problem besteht nicht darin, dass wir noch nicht die richtigen statistischen Kategorien gefunden haben», sagt Espahangizi. «Es fehlt eher der politische Wille zur Anerkennung der pluralen Einwanderungsgesellschaft, die die Schweiz faktisch längst ist.» Solides wissenschaftliches Wissen und entsprechend konkrete Handlungsvorschläge gebe es seit den 1970er-Jahren genug.
Postmigrantische Gesellschaft
Espahangizi hat zusammen mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern im letzten Jahr das Institut Neue Schweiz (Ines) gegründet. Das Ines bezeichnet sich als «postmigrantischen Think & Act Tank, der sich für einen ehrlichen Neuanfang in der Einwanderungsgesellschaft Schweiz einsetzt».
Der Begriff «postmigrantisch» kommt aus der wissenschaftlichen Debatte und geht davon aus, dass Migration und Globalisierung die soziale Realität längst verändert haben, auch wenn es vielen schwerfällt, das anzuerkennen. «Den gesellschaftlichen Wandel kann man gut oder schlecht finden, das ist aber erst mal eine Tatsache, von der pragmatische Realisten und Demokraten ausgehen müssen», sagt Espahangizi. Es gebe viele Widersprüche, Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten und Konflikte, aber es biete sich auch eine grosse Chance. «Nämlich dann, wenn wir wieder anfangen zu fragen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen – demokratisch, freiheitlich und sozial gerecht. Dazu müssen wir die Gruppe derjenigen, die dazugehören, um alle faktischen Mitmenschen erweitern, die heute kein Bürgerrecht haben», fordert Espahangizi. «Das wäre nicht das erste Mal in der Schweizer Geschichte.»
«Ich kann mich als Schweizer fühlen und gleichzeitig je nach Situation auch als Albaner, Italiener, Iraner etc.»
Der historische Weg von der Figur des Ausländers zum Menschen mit Migrationshintergrund war ein langer. Er zeigt, wie sich die Schweiz im Selbstverständnis gewandelt hat, aber auch, dass sie weiterhin über die Frage streitet, was es heute heisst, Schweizerin und Schweizer zu sein.
«Klar, Schweizerinnen und Schweizer gibt es heute noch, sowohl auf rechtlicher Ebene als auch in Hinblick auf Identitäten», sagt Espahangizi. Die Dinge seien aber vielfältiger geworden. Gelebte Mehrfachzugehörigkeiten seien heute für viele normal. «Ich kann mich als Schweizer fühlen und gleichzeitig je nach Situation auch als Albaner, Italiener, Iraner etc.» Identitäten seien immer kontextgebunden, bei allen. «Man antwortet anders, je nachdem, ob man in einem anderen Quartier seines Wohnortes, in einer anderen Stadt oder in den Ferien im Ausland nach der Herkunft gefragt wird.»
Die Frage nach dem «richtigen» Schweizer sei daher von der Realität überholt. Sie diene wenn dann vor allem dazu, an alten Grenzziehungen und Klischees festzuhalten, die zwar politisch immer noch Macht haben, aber im Alltag längst immer weniger Sinn ergeben würden, sagt der Historiker. «Die Vorstellung, wer heute Schweizerin und Schweizer ist, braucht einfach einen Reality Check und ein entsprechendes Update.» Das hätte dann natürlich auch handfeste Konsequenzen, so zum Beispiel bei der nächsten Revision des Bürgerrechts.
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