Tod und Trauer im InternetWas Angehörige tun, damit Verstorbene «anwesend bleiben»
Lange Briefe an eine verstorbene Person in den Computer tippen, und dies täglich: Eine Linguistin und eine Theologin haben untersucht, wie im digitalen Zeitalter getrauert wird – und Seltsames herausgefunden.
Vieles, was einem auf dem digitalen Gedenkportal Gedenkseiten.de begegnet, ist herzzerreissend. Eine Rubrik unter dem Namen «Sternenkinder» ist verstorbenen Kindern gewidmet, etwa einem Mädchen, das am 15. Dezember 2000 im österreichischen Oberpullendorf geboren und am 29. Januar 2007 in Wien gestorben ist. Im Internet schreiben die Eltern Sätze wie: «Das ist die Gedenkseite einer wunderbaren, fröhlichen, einzigartigen kleinen Prinzessin. Sie kämpfte 23 Monate, 17 Tage gegen einen bösen Gehirnstammtumor mit Namen: Diffus intrinsisches Ponsgliom. Warum? Sie hatte so viele Träume!» Die Seite wurde bisher mehr als 4 Millionen Mal besucht.
Daneben gibt es auf dem bekanntesten deutschsprachigen Trauerportal die Rubriken «meistbesucht», «Prominente» (etwa Whitney Houston oder der Sänger und Showmaster Peter Alexander), es gibt Seiten für die Opfer von Naturkatastrophen («Tornado-Opfer in Oklahoma»), und unter der Rubrik «heute» sind Personen erwähnt, deren Todestag sich jährt. Man kann für die Verstorbenen virtuelle Kerzen anzünden und Musik hochladen.
Die Linguistin Karina Frick und die Theologin Lea Gröbel erforschen im Rahmen des Universitären Forschungsschwerpunkts «Digital Religion(s)», wie sich digitalisierte Trauer manifestiert, wie sie sich sprachlich niederschlägt und welche Vorstellungen von den Toten darin erkennbar werden. Dazu haben sie über 22’000 Gedenkseiten und viele Millionen Tweets ausgewertet.
Der Begriff «Sternenkinder» zum Beispiel – ein Euphemismus für früh oder noch vor der Geburt verstorbene Kinder – ist laut Frick in den 1990er-Jahren in Internet-Foren entstanden. In welchem Ausmass sich die Trauer um Verstorbene in sozialen Medien und auf Trauerportalen abspielt, darüber gibt es laut Frick und Gröbel keine verlässlichen Angaben. Aber die Millionen Zugriffe auf entsprechende Seiten legen nahe, dass es sich um ein Massenphänomen handelt.
Millionen trauern mit
Im Gespräch erläutern die Linguistin und die Theologin, was digitalisierte von «normaler» Trauer unterscheidet: dass es dank des Internets viel einfacher ist, eine verstorbene Person gewissermassen in den Alltag zu integrieren und bestimmte Formen der Kommunikation aufrechtzuerhalten. «Verstorbene bleiben so anwesend», sagt Gröbel. Früher musste man an ein Grab gehen, man hat davor gestanden, vielleicht in Gedanken oder halblaut mit dem Verstorbenen gesprochen, einen Brief niedergelegt – eine einsame Angelegenheit. Heute genügt es, den Computer aufzustarten, und je nachdem, wie aufwendig man auf welchem Portal seine Gedenkseite gestaltet und betreut, schauen und hören einem Millionen beim Trauern zu – und trauern allenfalls mit.
Oft werden Verstorbene angesprochen, als sässen sie im Jenseits vor dem Bildschirm.
Zum einen ist es laut Frick und Gröbel auffällig, wie häufig auch im Internet althergebrachte Trauerformeln wie «Ruhe in Frieden» oder das international verwendete RIP (für «rest in peace») gebraucht werden. Zum anderen, wie direkt und persönlich die Dahingegangenen oft angesprochen werden, als sässen sie im Jenseits vor dem Bildschirm.
«Nach 10 Jahren ist der Schmerz noch immer da, liebe Mama!», schreibt etwa eine Tochter, deren Mutter sich das Leben genommen hat. «Ich denke täglich an dich, nein stündlich, rund um die Uhr, du bist präsent, oft sind es die Gedanken an dich, die schönen Dinge, die wir erlebt haben, oft ist es leider dieser schwarze Tag im März 2008.»
Theologisch-christliche Traditionen, der Glaube an ein Weiterleben im Jenseits, nehmen in digitalisierter Form etwas Fassbares, Konkretes an. Lea Gröbel sagt: «Es liegt mir als Theologin fern, so etwas einfach als illusorisch abzutun oder gar lächerlich zu machen.»
Bezeichnend für digitalisierte Trauer sei auch ein Phänomen, das Frick «Meta-Kommunikation über angemessene Formen von Trauer nennt» – also etwa Diskussionen, weshalb die Opfer eines Massakers an einer amerikanischen Highschool viel mehr Anteilnahme erhalten als ermordete Kinder in Syrien, deren Schule bombardiert wurde. Oder ob es angemessen sei, den Kampf gegen eine Krankheit, den eine Angehörige verloren hat, in allen Details öffentlich zu machen. Im Internet werden, sagen Gröbel und Frick, «die sozialen Normen der Trauer in den Fokus gerückt» – also viel offener und kontroverser darüber diskutiert, wie Menschen trauern, als noch im analogen Zeitalter.
«Es gibt Leute, die täglich lange Botschaften an Verstorbene schreiben.»
Besonders bei unerwarteten Todesfällen, bei Suiziden oder nach dem Tod eines Kindes können die Anteilnahme der User-Community und der Austausch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, tröstlich sein. Allerdings sind die beiden Forscherinnen auch auf Irritierendes gestossen. «Es gibt Leute, die täglich lange Botschaften an Verstorbene schreiben, und dies während Jahrzehnten», sagt Frick. Das werfe die Frage auf, ob jemand so überhaupt über einen Verlust hinwegkommen könne.
Jeannette Brodbeck, Fachpsychologin für Psychotherapie an der Universität Bern und an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, befürchtet Ähnliches. In einem Gespräch sagt sie: «Wie sollen Angehörige abschliessen können, wenn eine verstorbene Person gewissermassen virtuell weiterlebt?»
Selbst Tote werden beschimpft
Gröbel erwähnt, dass die Internet-Trauer ferner die Gefahr einer zweiten, digitalen Verlusterfahrung berge – nämlich dann, wenn ein Gedenkportal geschlossen werde oder wenn Daten über einen Verstorbenen verloren gehen würden. Viele Portale funktionieren als eine Art Start-up und verschwinden nach kurzer Zeit wieder – laut einer Studie der Soziologin Debra Bassett waren es im englischsprachigen Raum innerhalb von fünf Jahren etwa die Hälfte. Es gebe, so führen Frick und Gröbel aus, auch das Phänomen des «RIP-Trolling» – Trolle, die auf Gedenkseiten unflätige Kommentare über Verstorbene hinterlassen oder zum Beispiel Angehörige beschuldigen, an einem Suizid schuld zu sein.
«Im Moment ist es noch eine Nische», sagt Frick, «aber als intensivierte Form der digitalen Trauer und Verlustbewältigung erschaffen sich Menschen zunehmend auch Avatare von Verstorbenen.» Avatare sind softwarebasierte grafische Darstellungen, die möglichst viele Eigenschaften eine Person möglichst authentisch duplizieren sollen: das digitalisierte Jenseits als zugänglicherer, realer wirkender Ersatz für das christliche Jenseits.
Am Donnerstag, 9. März, findet um 18 Uhr eine Podiumsdiskussion zum Thema «Jenseits der Bits und Bytes: Sterben und Tod im Zeitalter des Internets» statt. Universität Zürich, Gebäude RAA, Rämistrasse 59. Aula RAA-G-01. Für zusätzliche Informationen hier klicken.
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