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Nach dem Skandal um Rammstein
Wo Sexismus und Gewalt mit Erfolg belohnt wird

Till Lindemann, heute 60, Sänger bei Rammstein.
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Und jetzt, nach dem Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann, also wieder die Frage nach dem Warum, die diesmal eher eine Frage nach dem Wie ist. Wie kann es sein, dass im Jahr 2023 einem 60 Jahre alten Mann noch Frauen zugeführt werden? Gecastet nach optischen Kriterien, offenkundig zum Zwecke der ganz allgemeinen Unterhaltung, bei der sehr konkrete sexuelle Befriedigung offenbar nicht ausgeschlossen wird? Wie kann es sein, dass eine Menge Leute davon gewusst haben müssen und schwiegen?

Die kurze Antwort: Die Musikindustrie hängt recht offensichtlich in beachtlichen Teilen noch immer in einem eher fernen Zeitalter fest, und es sagt ja niemand, dass es das Mittelalter ist, aber irgendwann vor der Aufklärung wird es schon liegen. Der Metal, der Rock, der Rap, im Grunde die meisten der Genres, die unter den sehr weiten Begriff der populären Musik fallen, haben ein relativ unbestreitbares Sexismusproblem. Noch grösser als das durchschnittlicher DAX-Konzerne.

Zahlreiche Frauen, darunter die Schauspielerin Evan Rachel Wood, werfen Brian Hugh Warner, wie er bürgerlich heisst, vor, sie vergewaltigt zu haben.

Es beginnt bei alltäglichen Demütigungen, verengten Blickwinkeln und Schrulligkeiten, die ein (kapitalistisches) System mit sich bringt, wenn es im Kern rein männlich dominiert ist, wenn Männer, und nur Männer, dort entscheiden. Und es endet in Bereichen wie den separaten Backstage-Räumen und Hotelsuiten von Rockstars, in denen laut Berichten nicht immer alles einvernehmlich verläuft.

Länger ausgeführt: Gewalt gegen Frauen ist im Pop eine ewige Realität und ein stetes Narrativ. Willkürliche Beispiele durch die Jahrzehnte: Ike Turner, der seine damalige Frau, die gerade verstorbene Sängerin Tina Turner, unter aller Augen über Jahre immer wieder beinahe totprügeln konnte. Der Frauenmörder Phil Spector. Der im Jahr 2011 wegen «third degree sexual assault» in New York festgenommene und nach einem Deal nur wegen Freiheitsberaubung verurteilte US-Rapper Big Sean. In den Jahren 2013, 2015 und 2017 veröffentlichte er wieder Alben, und zwar unter anderem beim Label Def Jam. Dessen Gründer Russell Simmons zog sich aus seinen Firmen zurück, nachdem mehrere Frauen ihm Übergriffe und Vergewaltigung vorgeworfen hatten.

Zahlreiche Frauen werfen Brian Hugh Warner, wie Marilyn Manson bürgerlich heisst, vor, sie vergewaltigt zu haben. Manson bei der Vanity Fair Oscar Party 2020 in Beverly Hills.

Und da ist der Fall von Marilyn Manson. Grellbleich geschminkter Rocksuperstar, gern wahlweise in Strapsen oder NS-artigen Uniformen unterwegs. Eines dieser überlebensgrossen Pop-Phänomene. Auch er, ganz ähnlich wie Rammstein, je nach Position des Betrachters, Galionsfigur der Meinungs- und Kunstfreiheit oder potenzieller Verführer junger Seelen. Zahlreiche Frauen, darunter die Schauspielerin Evan Rachel Wood, werfen Brian Hugh Warner, wie er bürgerlich heisst, vor, sie vergewaltigt zu haben. Sie mit Drogen, Schlaf- und Nahrungsentzug gefügig gemacht zu haben. Sie berichten von Todesdrohungen, gegen sich und ihre Familien. Von Stromschlägen an den Genitalien. Einige haben ihn angezeigt.

Der viele Jahre extrem erfolgreiche Manson, das zeigt eine über Monate geführte Recherche des amerikanischen Magazins «Rolling Stone», wurde offenbar von seinem Umfeld, der Szene, der Branche immer wieder gedeckt und geschützt. Er bestreitet die Vorwürfe. Eine Klage, die er seinerseits gegen Wood eingereicht hat, wegen Verleumdung und Verschwörung, wurde im Mai dieses Jahres vom Los Angeles County Superior Court zu grossen Teilen abgewiesen.

Gewalt gegen Frauen als Marketing-Tool

Es gibt also ganz offensichtlich ein strukturelles Problem – samt Bonustrack: Anders als in anderen Industrien ist Gewalt gegen Frauen in Rock und Rap nicht einfach nur das hässlichste Resultat einer toxischen Welt. Sie ist ein Marketing-Tool. Gewalt gilt nicht als verwerflich, sie zahlt sich aus.

In ihrem sehr klugen, sehr verstörenden Text «How Hip-Hop Rewards Rappers for Abusing Women» (Wie der Hip-Hop seine Rapper dafür belohnt, dass sie Frauen missbrauchen) hat die Autorin Amy Zimmerman zusammengetragen, dass auffallend oft jene Künstler besonders erfolgreich sind, die wegen Gewaltdelikten, auch und vor allem gegen Frauen, vor Gericht standen. Und damit besonders offensiv hausieren gingen.

Das ist in den Anhimmelungsmechanismen einer solchen Szene recht notwendig angelegt. Gewalt, Regelbrüche, Outlawtum, die Rolle des Bad Guy: Das waren immer schon Garanten für Aufmerksamkeit und Bewunderung. Auch durch Journalisten, denen das Unangepasste aufregende Geschichten liefert. Ein riesiger PR-Zirkus – ungefähr seit Mick Jagger in «Under My Thumb» grossspurig und hüftjeck feststellte, das Mädchen, das ihn einst niedergemacht und herumgeschubst habe, stehe jetzt unter seiner Fuchtel, sei sein liebstes Haustier.

Wer sich also gerade mal wieder fragt, ob es so etwas wie eine Cancel-Culture gibt: im Pop bislang eher nicht.

Der Effekt galt bis zuletzt. Stellvertretend sei die Geschichte des Emo-Rappers XXXTentacion erzählt, bürgerlich Jahseh Dwayne Onfroy, der im Jahr 2016 seine schwangere Freundin wiederholt missbraucht, verprügelt, getreten haben soll. Wer gerade stabil dasteht, lese die Aussagen der Frau, die vom Portal Pitchfork.com geleakt wurden. Die anderen lassen es lieber. Später wurde Onfroy zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er die Ex-Freundin dazu zwingen wollte, ihre Vorwürfe zurückzuziehen. Noch während er im Gefängnis sass, boten ihm die Scouts von mehreren grossen Labels Verträge mit sechststelligen Vorschüssen.

Wer sich also gerade mal wieder fragt, ob es so etwas wie eine Cancel-Culture gibt: im Pop bislang eher nicht.

Der Soziologe Marc Dietrich, der an der deutschen Hochschule Magdeburg-Stendal zum Thema forscht, hatte das im Gespräch vor ein paar Jahren so formuliert: «Die Trennung von Kunstfigur und Biografie ist in den vergangenen Jahren im Gangsta-Rap sehr stark erodiert.» Wer möglichst glaubwürdig mit Gewalt, Verbrechen und auch Missbrauch prahlt, verkauft also mehr Platten, Konzertkarten, Merch. Das lässt sich nicht eins zu eins auf Rock und Metal übertragen. Sehr gross ist die nötige Transferleistung aber auch nicht.

Der sehr erfolgreiche Rapper Rick Ross lässt im Song «U.O.E.N.O» sein lyrisches Ich den Champagner einer Frau mit K.-o.-Tropfen versetzen, damit er sie «geniessen» kann.

Anders als etwa die Filmbranche in Hollywood, in der seit Harvey Weinstein vieles nicht mehr ist, wie es mal war, hat die Pop-Branche ihr Sexismus- und Gewaltproblem bis zuletzt auffällig unauffällig gehalten. Man kommt bei den Gründen dafür nun leicht in den Bereich der Spekulation, aber vielleicht liegt es daran, dass bislang der Bruch fehlt.

In Hollywood krachten die Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den inzwischen verurteilten Weinstein in eine Kulisse aus ausgestellter Liberalität, Toleranz, Offenheit und heiler Welt. Frauen sind auch dort noch selten in Entscheidungspositionen. Aber nicht ganz so selten wie in der Musikindustrie. Eine Szene, die sich so generieren will wie Hollywood, reagiert womöglich radikaler. Sei es aus Scham, sei es, um den Schein zu wahren.

Metal, Rap und Hip-Hop hingegen tragen die Erniedrigung von Frauen im Vergleich dazu stärker in der DNA. Dort stehen sie häufiger sogar in der Auslage. In Songtexten, Musikvideos, Shows, Interviewaussagen. Die steten Erniedrigungen von und die Widerwärtigkeiten gegen Frauen, sie erscheinen im Pop damit weiterhin wie eine zwar dann und wann irritierende, aber auch weithin akzeptierte Norm: «Put molly all in her champagne / She ain't even know it / I took her home and I enjoyed that / She ain't even know it». Der sehr erfolgreiche Rapper Rick Ross lässt da im Song «U.O.E.N.O» sein lyrisches Ich den Champagner einer Frau mit K.-o.-Tropfen versetzen, damit er sie «geniessen» kann.

Wo Männer derart unter sich sind, bleiben Frauen das Andere

Ähnliche Beispiele gibt es so zahlreich, dass man im Internet Sammlungen mit den schlimmsten Vergewaltigungstexten in Rap und Rock findet. Auf manchen Seiten sind sie nach Erscheinungsjahren sortiert.

Was also hilft? Womöglich Frauen. Klar, es ist polemisch, eine direkte Linie von Frauenquoten zu Gewalt gegen den weiblichen Teil der Menschheit zu ziehen. Klar, es gibt frauenverachtende Frauen. Aber wo Männer derart unter sich sind wie in der Musikbranche, bleiben Frauen das ewig Andere.

In Deutschland gibt es genau eine Frau, die eines der grossen Festivals leitet. Fruzsina Szép heisst sie, sie verantwortet das Superbloom in München und zuvor das Lollapalooza in Berlin. Als Szép davor das sehr relevante Sziget Festival in Budapest leitete, gab es in Deutschland gar keine Frau an einer Grossfestivalspitze.

Musikindustrie 2023, das ist noch immer Klassenfahrt im Elite-Jungs-Internat.

Das hat quantifizierbare Folgen. Beim Zwillingsfestival Rock im Park/Rock am Ring lag die Frauenquote auf der Bühne im vergangenen Jahr etwa bei 4,8 Prozent. Handgezählte 270 Musiker hatte man dort gebucht, 13 von ihnen waren Frauen. Die drei Background-Sängerin von Jan Delay eingerechnet.

Das ist grob das Klima, in dem Frauen nicht nur keine Vorbilder finden, sondern von Anbeginn an Sonder- und Störfälle waren. Musikindustrie 2023, das ist noch immer Klassenfahrt im Elite-Jungs-Internat.

Wie sich das ändern könnte? Nun, nach vielen Jahrzehnten muss man wohl festhalten: nicht aus sich heraus. Aber Geld könnte helfen beziehungsweise Geldentzug. Bislang war es auch den Fans sehr oft egal, ob überwiegend Männer auf den Bühnen standen und was sie dahinter vermeintlich taten. Da liesse sich sehr leicht etwas ändern. Man müsste nur wollen.