Flüchtlingskrise in der TürkeiDie türkische Toleranz schwindet
Die Stimmung im Land wendet sich zunehmend gegen die Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Das wird für Staatschef Recep Tayyip Erdogan zum Problem.
Fremdenfeindlichkeit ist ein weltweites Phänomen, aber wie der Bürgermeister des türkischen Bolu den Rassismus schürt, ist ohnegleichen. Tanju Özcan hat im Rat seiner Stadt und gleichnamigen Provinz nördlich von Ankara soeben durchgesetzt, dass «Ausländer», sprich Flüchtlinge, höhere Abgaben zahlen sollen als Einheimische. Zehnmal so hohe Kosten für Wasser und andere kommunale Gebühren sind geplant. Die Reaktionen scheren den Populisten Özcan nicht: «Einige werden von den Menschenrechten sprechen und mich einen Faschisten nennen. Aber das ist mir egal. Ich spreche für das Volk.»
Für seine Es-gibt-zwei Klassen-von-Menschen-Abgabe hatte Özcan wochenlang getrommelt. Wer Flüchtlingen Hilfe zahle, sie zur Schule schicke oder ihnen Gewerbescheine ausstelle, der halte sie doch nur auf ewig im Land. Also nein zu alledem. Özcan weiter: «Die Flüchtlinge werden so wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.»
Nicht einmal die Proteste aus seiner eigenen Partei, der sozialdemokratisch-nationalistisch ausgerichteten CHP, konnten Özcan zügeln. Und bei der Abstimmung im Rat stimmten die örtlichen CHP-Vertreter dann seinem Vorschlag zu. Die Opposition – in Bolu ist das die in der Gesamt-Türkei regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan – liess er in der Abstimmungsdebatte erst gar nicht zu Wort kommen: «Seid ruhig!»
Fremdenfeindlichkeit ist Kritik am Staatschef
Nun ist Bolu, eine kleine Stadt in der gleichnamigen westanatolischen Provinz, nicht das Herz der Türkei. Aber der fremdenfeindliche Bürgermeister sagt eigentlich nur laut, was viele Türken angesichts anhaltender Wirtschaftskrise, steigender Inflation, Währungsverfall und der sozialen Folgen der Corona-Epidemie denken: Es sind zu viele Flüchtlinge im Land.
Das Thema könnte die Opposition rund um die CHP aufnehmen. Die wachsende Fremdenfeindlichkeit bedeutet zugleich Kritik an Staatschef Erdogan. Bisher konnten seine Gegner dem seit fast 20 Jahren regierenden starken Mann mit seinem Mix aus islamistischer und nationalistischer Politik erstaunlich wenig entgegensetzen.
Das könnte sich nun ändern. Erdogan hat in den Augen der Kritiker den Zuzug von Migranten aus dem syrischen Bürgerkrieg durch seine Politik regelrecht befeuert. Er hatte sich 2011 offen auf die Seite der Aufständischen im Nachbarland geschlagen. Er hatte islamistischen Rebellengruppen Waffen geliefert und sich später mit Feldzügen der türkischen Armee im türkisch-syrischen Grenzgebiet und der Errichtung von «Sicherheitszonen» militärisch in den Konflikt eingemischt. Zudem hatte er die Grenze für die «syrischen Brüder und Schwestern» lange offen gehalten.
Zehn Millionen Türken von absoluter Armut betroffen
In der Türkei leben inzwischen schon mehr als 3,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Syrien. Hinzu kommen Schätzungen zufolge eine halbe Million Afghanen und noch einmal bis zu eineinhalb Millionen andere illegale Einwanderer und Saisonarbeiter aus anderen Staaten.
Vor allem die Syrer haben sich vergleichsweise gut integriert und in der Türkei – oft unterbezahlte – Arbeit gefunden, sie sind zu einem für Unternehmer preiswerten Wirtschaftsfaktor geworden. Zudem werden sie durch das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union besser geschützt als die anderen Migranten. Doch in letzter Zeit schwindet die Toleranz der Türken. Wegen Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie können sich viele Türken ökonomisch selbst kaum noch über Wasser halten. Der Weltbank zufolge sind 10 Millionen der 85 Millionen Türken von absoluter Armut betroffen.
Und nun steigt auch noch die Zahl der afghanischen Migranten und Kriegsflüchtlinge drastisch an. Der überraschend schnelle Abzug der US- und Nato-Truppen und die raschen Geländegewinne der Taliban vertreiben die Einheimischen. Mittlerweile sollen täglich zwischen 500 und 2000 Afghanen in die Türkei kommen.
Bettelnde Syrer in Istanbul
Die anfängliche Sympathie für die Syrer schlägt langsam in offene Ablehnung um. Viele Türken sagen, die Syrer nähmen ihnen Jobs und Wohnraum weg. In Städten wie Istanbul gehören zum Stadtbild inzwischen syrische Flüchtlinge und ihre Kinder, die bettelnd durch die Strassen ziehen und den Müll nach Essbarem durchsuchen.
Der zusätzliche Zustrom von Afghanen wird in den Medien und von der Opposition bereits stärker thematisiert. Die türkische Seite reagierte daher gereizt auf Berichte, wonach Washington diejenigen Afghanen, die für die US-Streitkräfte gearbeitet hatten, nur über Drittstaaten in die Vereinigten Staaten holen will. Visa für den Umzug in die USA würden demnach nicht direkt, sondern erst nach einer mindestens einjährigen Zwischenstation in Drittländern erteilt: So lange brauchen die US-Behörden offenbar für die Bearbeitung der Visa-Anfragen von Betroffenen und ihren Familien. Zudem sollen die Ex-Mitarbeiter der Streitkräfte auf eigene Faust in das Drittland kommen. Naheliegend ist für Afghanen dann die Türkei.
Die Türkei beherberge schon jetzt die höchste Zahl an Flüchtlingen weltweit.
Eine Sprecherin des Aussenministeriums in Ankara nannte das vorgeschlagene US-Verfahren «verantwortungslos», denn es würde die Flüchtlingskrise anheizen: «Es ist inakzeptabel, die Türkei für solche Lösungen zu vereinnahmen, ohne türkische Zustimmung.» Die Türkei beherberge jetzt schon die höchste Zahl an Flüchtlingen weltweit und «hat nicht die Kapazität, eine neue Flüchtlingswelle aufzufangen, und das auch noch zum Nutzen eines Drittlandes».
Diese Gereiztheit hat Gründe: Die Regierung weiss, dass das Thema Afghanistan für Erdogan zum Problem werden könnte. Auf Bitten von US-Präsident Joe Biden soll Ankara demnächst die Verantwortung für den Flughafen Kabul übernehmen. Erdogan hat dies mehr oder weniger bindend bereits zugesagt. Er versucht so, in Washington Boden wiedergutzumachen, den er durch die Liebäugelei mit Russland und seine militarisierte Aussenpolitik in Nahost und im östlichen Mittelmeer verloren hat.
Verantwortung für Kabuls Flughafen
Biden meint, nach dem Abzug der US-Soldaten könne Washington die im Stich gelassene afghanische Regierung am Leben erhalten, wenn der Flughafen offen bleibe für militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe. Doch je näher die Taliban vorrücken, desto mehr könnte die Türkei als letzte im Land verbleibende Macht der ehemaligen Nato-Mission auch für neue Flüchtlingsströme verantwortlich gemacht werden.
Wenn es schlecht läuft für Erdogan mit dem politischen Projekt am Flughafen Kabul, könnte die inländische Opposition ihm irgendwann gleich zwei Dinge anlasten: tote türkische Soldaten in Afghanistan und riesige Flüchtlingsströme aus dem Land am Hindukusch.
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