«Die Tür blieb zu, Gott hat uns geschützt»
Ein schwer bewaffneter Rechtsextremist versuchte in Halle eine Synagoge zu stürmen. Als es ihm nicht gelang, erschoss er zwei Passanten.
Halle an der Saale, eine Stadt mit 240'000 Einwohnern im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, ist am Mittwoch offenbar nur knapp einem Massaker an seiner jüdischen Gemeinde entgangen. Laut Augenzeugen versuchte am Mittag ein Mann in grünem Kampfanzug, Stiefeln, Sturmhaube und mit mehreren Waffen auf das Gelände von Synagoge und jüdischem Friedhof an der Humboldtstrasse einzudringen.
«Erst gab es einen Riesenknall, dann hat der Mann mit einer Schrotflinte auf die Türe geschossen», sagte ein Zeuge dem Mitteldeutschen Rundfunk. Offenbar versuchte der Täter mehrere Minuten lang, sich mit Sprengsätzen einen Weg zu bahnen; er warf auch mehrere Brandsätze. Als es ihm nicht gelang einzudringen, habe er mit einem automatischen Gewehr auf eine Passantin geschossen und sie getötet.
Gläubige feierten Versöhnungstag
Laut dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, hielten sich zum Zeitpunkt der Tat etwa 70 bis 80 Menschen in der Synagoge auf. Die Gläubigen feierten am Mittwoch Jom Kippur, den sogenannten Versöhnungstag – den höchsten jüdischen Feiertag. Zum Glück hätten die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang dem Angriff standgehalten, sagte Privorozki dem «Spiegel». Er konnte den Täter nach eigenen Angaben über eine Kamera an der Tür verfolgen. «Aber die Tür blieb zu, Gott hat uns geschützt.»
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Nach den Schüssen bei der Synagoge wurde wenig später an der Ludwig-Wucherer-Strasse geschossen, 500 Meter weiter. Ein Schütze in grünem Kampfanzug und Stahlhelm auf dem Kopf griff einen türkischen Döner-Imbiss an. Ein Kunde sagte dem TV-Sender ntv: «Der Täter kam auf den Laden zu und warf erst einen Sprengkörper gegen die Fassade.» Als dieser abgeprallt sei und keinen Schaden angerichtet habe, habe er von aussen ins Ladeninnere geschossen. «Wir waren etwa zu sechst und rannten alle weg.» Der Mann hinter ihm sei tödlich getroffen worden, er selbst habe sich in der Toilette versteckt. «Ich wartete. Und schrieb meiner Familie, dass ich sie liebe.»
Doch der Täter liess von dem Imbiss ab und floh mit dem Auto Richtung Landsberg. Dort zwang er einen Garagisten, ihm ein Auto zu überlassen, schoss auf zwei weitere Menschen und verletzte sie. Nach einer Verfolgungsjagd wurde der Täter auf einer Hauptstrasse gestoppt und verhaftet.
Auch Zürcher Synagoge wird geschützt
Die Polizei hatte nach den ersten Schüssen sofort ein Grossaufgebot zusammengezogen, Anti-Terror-Einheiten des Bundes trafen ein, die Stadt Halle rief Amokalarm aus, die Bewohner wurden gebeten, nicht auf die Strasse zu gehen. Sicherheitskräfte begannen in Leipzig, Dresden, Berlin und vielen anderen Städten Synagogen mit zusätzlichen bewaffneten Einheiten zu schützen. Auch in Zürich bewachte die Polizei mehrere Synagogen, wie Beamte vor Ort gegenüber Medien bestätigten.
Der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Reiner Haseloff brach einen Aufenthalt in Brüssel ab und kehrte nach Deutschland zurück. «Ich bin entsetzt über diese verabscheuenswürdige Tat», sagte Haseloff. Dadurch seien nicht nur Menschen zu Tode gekommen, die Tat sei «auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land». Er sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus.
In Berlin bestätigte Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Abend ein antisemitisches Motiv des Täters. Sicherheitskreise sagten, die Tat habe ziemlich sicher einen rechtsextremistischen Hintergrund. Der Täter soll Stephan B. heissen. Der 27-jährige Mann gilt nach ersten Erkenntnissen als Einzeltäter, soll aus Sachsen-Anhalt stammen und der Polizei bisher nicht bekannt sein. Der Glatzkopf zeichnete seine Tat mit einer Kamera auf dem Helm auf und streamte sie im Internet – wie jener rechtsextreme Terrorist, der im März in Neuseeland in einer Moschee mehr als 50 Muslime erschoss.
Mehr Übergriffe gegen Juden
In Deutschland hat es zwar in den vergangenen Jahren immer mehr gewaltsame Übergriffe gegen Juden und ihre religiösen Einrichtungen gegeben, tödliche Angriffe wie zuletzt in den USA aber nicht. Vor einem Jahr war ein rechtsextremer Täter in Pittsburgh in die «Tree of Life»-Synagoge eingedrungen und hatte elf Gläubige erschossen und sechs weitere verletzt. Es war der bisher tödlichste Anschlag auf die jüdische Gemeinschaft in den USA gewesen. Ein halbes Jahr später griff ein 19-jähriger Rechtsextremist in der Nähe von San Diego eine Synagoge an und erschoss eine 60 Jahre alte Frau. Drei weitere Gläubige erlitten Schusswunden, unter anderem der Rabbi.
In Deutschland wurden zuletzt in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren Juden bei gezielten antisemitischen Angriffen getötet. Bei einem Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in München starben 1970 sieben Holocaust-Überlebende. Die Täter wurden nie ermittelt. 1980 wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frieda Poeschke in ihrem Wohnhaus erschossen, vermutlich durch ein Mitglied der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann. Der mutmassliche Täter wurde nicht gefasst und soll später Selbstmord begangen haben. 1992 wurde in Frankfurt am Main die jüdische Garderobenfrau Blanka Zmigrod von einem schwedischen Rechtsextremisten mit einem Kopfschuss auf offener Strasse getötet.
Im Juni dieses Jahres hatte ein Neonazi in Kassel den CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet, der sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte. Der deutsche Generalbundesanwalt Peter Frank warnte deswegen gerade vor neuen Attentaten. «Ich befürchte, dass es Nachahmungstäter geben könnte», sagte er der «Zeit». «Die Gefahr ist gross, dass sich andere Rechtsextremisten ähnlich radikalisieren und zur Tat schreiten.» Die meisten Rechtsextremisten hassen nicht nur Muslime, sondern ebenso Juden.
Rechtsextremisten verhaftet
Dass die Gefahr durch rassistischen und antisemitischen Terror insgesamt gewachsen ist, zeigte kürzlich ein Alarmruf der europäischen Polizeibehörde. Angesichts rechtsextremer Terroranschläge in den USA und in Neuseeland warnte Europol vor zunehmenden rassistischen Gewalttaten und rief die nationalen Behörden zu mehr Zusammenarbeit auf.
Als Reaktion auf den Mord an Lübcke hatten die deutschen Behörden bereits angekündigt, ihre Anstrengungen gegen rechtsextremen Terror zu verstärken. Innenminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete die rechte Gewalt kürzlich als ebenso gefährlich wie die islamistische. Bundesverfassungsschutz und Bundeskriminalamt wollen Hunderte von zusätzlichen Beamten für den Kampf gegen rechten Terror einstellen. Die neuen Kräfte sollen sich vor allem darauf konzentrieren, anschlagsbereite Einzeltäter zu entdecken. Auch das nationale Neonazi-Abwehrzentrum in Köln soll künftig täglich neu die Risiken einschätzen – ähnlich wie das gegen Islamisten gerichtete Terror-Abwehrzentrum in Berlin.
Gerade am Mittwoch wurde bekannt, dass Ermittler in vier deutschen Bundesländern mehrere Gebäude durchsucht und sechs bekannte Rechtsextremisten vorübergehend festgenommen haben. Sie sollen muslimische Einrichtungen und Persönlichkeiten bedroht und auch mit Sprengstoffanschlägen gedroht haben. Letzte Woche erst hatte in Dresden ein Prozess gegen acht Mitglieder der Neonazi-Gruppe «Revolution Chemnitz» begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft der Gruppe die Bildung einer terroristischen Vereinigung vor. Ihr Ziel sei es gewesen, durch Attentate das staatliche «System» zu stürzen.
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