Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Explosionskatastrophe in Beirut
Die Stadt dankt einer Hundenase – und hofft auf ein Wunder

Was er witterte, erkannte danach ein Scanner als Herzschlag: Flash aus Chile wird in Beirut zur Suche nach Überlebenden eingesetzt.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Der neue Held von Beirut hat schwarzes Fell und eine weisse Schnauze, trägt eine neongelbe Warnweste und rosarote Turnschühchen an den Pfoten – zum Schutz vor Scherben und Trümmerteilen. Flash ist ein Hund mit sehr feiner Nase und kam erst vor wenigen Tagen aus Chile, um mit Spezialisten eines Rettungsteams Häuser zu untersuchen, die bei der Explosionskatastrophe von Beirut am 4. August zerstört wurden – bevor der Wiederaufbau beginnen kann, müssen einsturzgefährdete Bauten gesichert werden.

Dass unter den Trümmern noch Überlebende zu finden sein würden, hatten wohl auch die Spezialisten aus Chile nicht erwartet, schliesslich ist es an diesem Freitag nun einen Monat her, dass 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen detonierten und weite Teile der Stadt zerstörten. Wenn überhaupt, war die Hoffnung, Leichen aus eingestürzten Häusern zu bergen, um den Familien von Vermissten ein Begräbnis zu ermöglichen.

Bei einer Erkundungsmission im Viertel Gemmayzeh in unmittelbarer Hafennähe, das sich nicht direkt an den Hafen anschliesst, sondern in einigen Hundert Metern Entfernung die Hügel hinaufzieht, schlug Flash jedoch am Donnerstagmorgen an. Er hatte eine Spur gewittert in den Überresten eines Altbeiruter Hauses, dessen obere Stockwerke eingestürzt waren. Nur noch das Erdgeschoss steht, seit einem Monat ist es nun mit Trümmerteilen gefüllt.

Eine Spezialsonde wurde eilig herbeigeschafft, und als die mittlerweile zu Dutzenden in der Strasse stehenden Schaulustigen und Journalisten alle um absolute Ruhe gebeten wurden und schliesslich sogar ihre Handys ausgeschaltet hatten, bestätigte das Gerät, was Flash mit seiner Schnauze schon erschnuppert hatte: Irgendwo zwischen den Steinen, den gesplitterten Holzbalken und den Überresten der Dachziegel muss ein Lebewesen sein. Der Scanner erkannte einen Körper, wahrscheinlich von einem Kind, ungefähr auf Höhe des Erdgeschosses. Und, was kaum zu glauben war: Herzschlag und Atembewegungen, 18 pro Minute.

Treibt die Hoffnung vieler Beiruter auf ein Wunder an: Flash mit zwei Rettungshelfern.

Die chilenischen Helfer machten sich sofort an die Arbeit und begannen, vorsichtig in den Trümmern zu graben – Topos, Maulwürfe, so heisst der Name ihrer Gruppe. Vor zehn Jahren hatten Mitglieder der Organisation nach dem Erdbeben in Haiti einen Verschütteten nach 27 Tagen befreien können. Doch dass dieser Rekord nun in Beirut noch einmal übertroffen werden kann, ist alles andere als sicher. «Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird», sagte Francisco Lermanda von Topos einem Fernsehsender. «Die Platten sind sehr dick, der Zement ist sehr hart, die Armierung ist sehr gross.» Mit schweren Maschinen zu arbeiten, daran ist nicht zu denken, wenn das Leben der verschütteten Person nicht gefährdet werden soll. «Deshalb handelt es sich um eine sehr langsame, technische Arbeit», sagt Lermanda. Stein für Stein, Trümmerteil für Trümmerteil wird per Hand abgetragen.

Die Menge drohte, die Absperrungen zu überwinden und selbst zu graben

Am Freitagmorgen, 24 Stunden nach Flashs Entdeckung, arbeiten die Experten noch immer an der Einsturzstelle. In der Nacht wollten Offizielle der Armee die Grabungen aus Sicherheitsgründen bis zum nächsten Morgen unterbrechen. Die Wut der Bürger, die die Arbeiten aus einiger Entfernung verfolgten, war immens: Die körperlichen Wunden sind bei vielen Betroffenen der Katastrophe langsam am Abheilen, die traumatischen Erlebnisse vom 4. August aber noch lange nicht verarbeitet. Beiruts Bürger sehnen sich nach einem kleinen Wunder – nach einem Zeichen der Hoffnung, des Lebens.

Nachdem die Menge drohte, die Absperrungen zu überwinden und selbst zu graben, gingen die Arbeiten schliesslich doch weiter – der libanesische Zivilschutz grub, bis das chilenische Team wieder übernahm. Aktivisten lotsten in eigener Regie einen Kran an die Einsturzstelle, der beim Heben schwerer Trümmerteile helfen soll, Kamerateams und Neugierige übernachteten am Strassenrand.

Noch 24 Stunden nach Flashs Entdeckung sind die Einsatzkräfte damit beschäftigt, Trümmer wegzuräumen.

Ob das Wunder von Beirut ein Happy End haben wird, ist auch nach einem Tag und einer Nacht angespannter Grabungsarbeiten noch nicht abzusehen, die Atemfrequenz des verschütteten Kindes scheint dem Messgerät zufolge schwächer zu werden. So oder so sind die Beiruter Flash und seiner feinen Nase dankbar – und einmal mehr wütend auf den eigenen Staat. Obwohl Anwohner Berichten lokaler Medien zufolge mehrmals Hinweise gegeben hatten, dass Verwesungsgeruch aus den Trümmern zu riechen ist, hatten die Behörden keine Massnahmen eingeleitet, die systematische Suche nach Überlebenden und Toten ist längst eingestellt.

Dass die Sicherungs- und Aufräumarbeiten nicht ideal verlaufen, verdeutlicht auch ein Zufallsfund, den die Armee am Donnerstag vermeldete: Nahe dem Eingang zum Hafen hatte sie nun vier Container mit Ammoniumnitrat entdeckt – 4,35 zusätzliche Tonnen des Stoffes, der am 4. August Tod und Zerstörung über die Stadt gebracht hatte, lagerten seither einen weiteren Monat inmitten der Stadt.